Interview: Warum das Bezeugen wichtig ist

Mit zehn Jahre Erfahrung will die Organisation SOS Humanity ihre Aktivitäten nicht auf die Suche und Rettung von Menschen beschränken. Die Organisation hat das Bezeugen als eines ihrer Hauptziele definiert. Marie Michel, Menschenrechtsbeobachterin erklärt, warum das Dokumentieren und Sichtbarmachen der Erlebnisse der Überlebenden entscheidend ist.
Was umfasst die Arbeit des Menschenrechtsbeobachtenden?
Menschenrechtsbeobachter*innen sind verantwortlich für die Dokumentation von Menschenrechts- und internationalen Seerechtsverletzungen, indem sie Beweise in Form von Funkgesprächen, Screenshots, E-Mail-Kommunikation und Fotos sammeln, speichern und auswerten. Für jede Rettungsaktion, aber auch für andere Vorfälle wie illegale Pullbacks durch die sogenannte libysche Küstenwache, erstellt SOS Humanity einen detaillierten Bericht, der an die Behörden gesendet wird. Unsere Advocacy-Arbeit an Land wäre ohne die Dokumentation, die Beweise und die Erfahrungen an Bord nicht möglich.

Warum ist das so wichtig?
Ohne die Präsenz nichtstaatlicher, humanitärer Akteure auf See würden die im zentralen Mittelmeer stattfindenden Verstöße gegen internationales Recht und die Menschenrechtsverletzungen, die Menschen auf der Flucht erleben, unbeobachtet und unerwähnt bleiben. Um politischen und gesellschaftlichen Wandel angesichts der Katastrophe im zentralen Mittelmeer zu bewirken, ist es zentral, diese Rechtsverletzungen zu bezeugen und die Geschichten und Erfahrungen der Überlebenden, die aus Libyen und Tunesien geflohen sind, weiterzugeben.
Was bedeutet es genau, einen Augenzeug*innenbericht zu dokumentieren?
Das bedeutet, die Erfahrungen der Geretteten zu dokumentieren sowie ihre Stimmen und Forderungen zu vervielfältigen. In den Medien werden wir seit Jahren ständig mit Zahlen zu Ankünften, Todesfällen und illegalen Rückführungen konfrontiert. Wir sorgen dafür, dass die persönlichen Geschichten der Menschen hinter diesen Zahlen nicht vergessen werden. Zu dokumentieren heißt aber auch, die systematischen Rechtsverletzungen durch europäische, libysche und tunesische staatliche Akteure sichtbar zu machen und zu quantifizieren und diese Beweise für unsere politische und juristische Arbeit an Land zu nutzen, um die jeweiligen Behörden zur Verantwortung zu ziehen und die Umsetzung internationalen Rechts einzufordern.
Welche Rechtsverstöße beobachtet die Crew hauptsächlich während der Einsätze auf See?
Wir beobachten eine Reihe von Rechtsverletzungen, die sich in indirekte und direkte Rechtsbrüche durch die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten einteilen lassen.
Seit 2017 haben die EU und ihre Mitgliedstaaten die Verantwortung für Seenotrettung zunehmend ausgelagert, indem sie diese an Tunesien und Libyen übertragen haben – Länder, die keine sicheren Orte für Gerettete sind und deren Akteure für schwerste Menschenrechtsverletzungen wie sexualisierte Gewalt, Folter, willkürliche Inhaftierungen und Pullbacks verantwortlich sind. Überlebende, die aus Libyen fliehen, zeigen oft Folterspuren. Wir haben selbst auf See erlebt, wie die sogenannte libysche Küstenwache Schüsse ins Wasser abgegeben hat, während Menschen im Wasser waren. Auch die tunesische Küstenwache setzt Gewalt gegen Menschen in Seenot ein, führt gefährliche Manöver durch, die bereits Boote zum Kentern gebracht haben, und verwendet Tränengas. Die EU und ihre Mitgliedstaaten unterstützen diese illegalen Pullbacks und Akteure weiterhin, obwohl sie von diesen Rechtsverletzungen wissen.
Obwohl die Verantwortung von Malta und Italien auf dem Papier durch die Einrichtung der libyschen und tunesischen Seenotrettungszonen (SRR) verringert wurde, erleben wir weiterhin, dass selbst in deren vergleichsweise kleinen Such- und Rettungszonen Notfälle nicht koordiniert werden: Malta reagiert nie auf unsere Anrufe, verweist Notfälle nicht an uns, sondern arbeitet mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen. Italienische Behörden verzögern oft Rettungsaktionen in lebensbedrohlichen Situationen. Erst letztes Jahr starb nachts eine Person, während zwei Patrouillenboote der italienischen Küstenwache und die Humanity 1 vor Ort waren, weil die italienische Küstenwache die Rettung auf den Morgen verschob. Bis heute wissen wir nicht, warum die Rettung verzögert wurde und ob dieses Leben hätte gerettet werden können.
Zusammengefasst erleben wir ein Spiel der Verantwortungsverschiebung auf Akteure mit sehr schlechter Menschenrechtsbilanz sowie zwischen verschiedenen europäischen Akteuren, was zu fehlender Koordination und verzögerten Rettungen führt. Im zentralen Mittelmeer scheinen die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Verpflichtungen buchstäblich über Bord zu werfen.
Kannst du Trends im zentralen Mittelmeer der letzten zehn Jahre erkennen?
Was wir seit 2015 beobachten, ist die Manifestation einer Politik, die sich 2015/2016 entwickelt hat: Menschen sterben zu lassen, indem nicht ausreichend Rettungskapazitäten bereitgestellt und die Pflicht zur Rettung nicht eingehalten wird. Leider kann man das nicht mehr als ‚Trend‘ bezeichnen, sondern es ist bereits fest etablierte Politik und Praxis.
Seit 2017 und mittlerweile im Zentrum aller Debatten zu Migration und Seenotrettung in Europa steht die Externalisierung. Das zentrale Mittelmeer wurde zum Labor für die Strategie, Grenzschutz und Migrationspolitik an Drittstaaten auszulagern, in denen Menschenrechte nicht gesichert und insbesondere Migrant*innen und Geflüchtete nicht sicher sind.
Seenotrettungsorganisationen sind seit Beginn ihrer Einsätze mit Behinderungen konfrontiert, aber die systematische Behinderung der Seenotrettung hat mit dem Piantedosi-Gesetz und der Praxis entfernter Häfen in Italien ein neues Ausmaß erreicht; auch die Kriminalisierung humanitärer Hilfe wird zunehmend in europäischer Gesetzgebung verankert, etwa in Italien und Deutschland, und aktuell auf europäischer Ebene im sogenannten Facilitator’s Package verhandelt.
Wie wird die Region zunehmend zu einem Ort massiver Menschenrechtsverletzungen?
Wir erleben eine Abkehr vom europäischen und internationalen Menschenrechtssystem und vom Rechtsstaat. Flucht aus dem globalen Süden wird im europäischen politischen Diskurs stark fokussiert und überhöht. Menschen, die Schutz vor Krieg, Hunger, Folter und Armut suchen, werden als Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme instrumentalisiert. Das wird zwar von rechtsextremen Akteuren befeuert, ist aber inzwischen im gesellschaftlichen Mainstream angekommen. Die Menschenrechtsverletzungen im zentralen Mittelmeer sind seit zehn Jahren systematisch. Inzwischen fordern auch demokratische Parteien offen, dass Menschenrechte wie das Asylrecht nicht mehr allen Menschen gleichermaßen gewährt werden sollen. Der demokratische Diskurs hat sich dramatisch in Richtung Erzählungen verschoben, die früher nur von Rechtsextremen vertreten wurden – geprägt von Unmenschlichkeit, Menschenfeindlichkeit und Rassismus. Das sollte uns alle alarmieren!