Einsatz für Menschenrechte in Libyen

Rettungsschiff im Einsatz
Camilla Kranzusch / SOS Humanity

Serena Zanirato ist Programmbeauftragte bei Lawyers for Justice in Libya (LFJL) und Freiwillige bei StraLi, einer Vereinigung für strategische Prozessführung. In diesem Interview beschreibt Serena, wie LFJL Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen und internationale Verbrechen in Libyen einfordert und wie ihre Mitfahrt auf der Humanity 1 sowohl die Expertise von LFJL als auch von SOS Humanity bereichern kann. 

Als Mitglied von Lawyers for Justice in Libya bist du jetzt Teil der Crew von Humanity 1. Kannst du uns etwas über die Arbeit deiner Organisation erzählen? 

Lawyers for Justice in Libya (LFJL) ist eine libysche und internationale Nichtregierungsorganisation, die seit 2011 Menschenrechtsverletzungen und schwere internationale Verbrechen wie Kriegsverbrechen in Libyen dokumentiert, um Gerechtigkeit, Rechenschaft sowie die Achtung der Menschenrechte im Land zu erreichen.

In den letzten Jahren haben wir einen innovativen Ansatz für unsere Arbeit gewählt und konzentrieren uns auf die Suche nach transformativer Gerechtigkeit in Libyen. Das bedeutet, dass wir mit unseren Projekten langfristige systemische Veränderungen anstreben. Durch unsere Arbeit, gemeinsam mit Partnern inner- und außerhalb Libyens, gehen wir die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Missstände an, die Ungerechtigkeit, Korruption und Gewalt in Libyen begünstigen.

"Wir setzen uns für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht bei systematischen Menschenrechtsverletzungen und schweren internationalen Verbrechen ein, die staatliche und nichtstaatliche Akteure gegen Migranten und Flüchtlinge in Libyen begehen."
Auf dem Mittelmeer unter blauem Himmel treibt ein rötliches Holzboot mit mehreren Menschen an BOrd.
Raphael Schumacher / SOS Humanity

So haben wir beispielsweise im November 2021 gemeinsam mit dem European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und der International Federation of Human Rights (FIDH) eine Mitteilung an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Migranten und Flüchtlingen eingereicht. Außerdem haben wir einen Bericht veröffentlicht, der diese Ergebnisse zusammenfasst. 

Kürzlich haben wir „Escaping Libya’s Detention Industry“ veröffentlicht, einen gemeinsamen Dokumentarfilm mit Forensis. Er bildet die Gebäude der beiden „offiziellen“ Haftanstalten in der Küstenregion im Westen Libyens und einige Haftorte in Bani Walid – einer für  Menschenhandel berüchtigen Stadt –  in 3D ab. Diese Arbeit ermöglicht es, die Gebäude, in denen diese Verstöße und Verbrechen gegen Migranten und Flüchtlinge begangen werden, zu visualisieren und aufzudecken. Die Bilder und 3D-Modelle basieren auf Interviews mit Expert*innen und Aussagen von Überlebenden, die teilweise jahrelang immer wieder dem Kreislauf von Misshandlungen und Verstößen in diesen Haftanstalten ausgesetzt waren. 

Durch diese Arbeit und durch die Zusammenarbeit mit SOS Humanity hoffen wir, denjenigen, die zurückgelassen werden und oft nur als Zahlen in Statistiken erscheinen, eine menschliche Stimme und ein Gesicht zu geben. In der Debatte um Migration wird völlig ignoriert, dass es sich um Menschen handelt. Es geht darum, Migration zu steuern und zu verhindern, anstatt sie auf verantwortungsvolle und menschenrechtsorientierte Weise zu gestalten.

Kannst du einem breiteren Publikum erklären, was strategische Prozessführung ist und warum sie wichtig ist? 

Bei LFJL arbeiten wir mit unseren Partner*innen zusammen, um Fälle vor nationale, regionale und internationale Gerichte zu bringen. Diese Fälle haben mehrere Ziele – als Menschenrechtsorganisation wollen wir Opfern von Menschenrechtsverletzungen helfen, Zugang zur Justiz zu erhalten und eine gewisse Wiedergutmachung zu erlangen.

Das Innovative an strategischer Prozessführung ist, dass wir versuchen, über das einzelne Opfer hinauszugehen. Wir  prüfen, wie wir durch die Verhandlung eines bestimmten Falles die Ursachen der Verstöße an sich bekämpfen können. So versuchen wir Gerechtigkeit für das Opfer zu erreichen und zugleich Gerechtigkeit für diejenigen Personen oder Gruppen zu erwirken, die zwar nicht Teil des Gerichtsverfahrens sind, aber von den gleichen oder  ähnliche Verstößen betroffen sind. Im Grunde genommen versuchen wir, vor Gericht einen Präzedenzfall zu schaffen. 

Gleichzeitig versuchen wir auch, eine Änderung der Gesetze oder der Politik zu erreichen, um künftige Verstöße zu verhindern. Im Zusammenhang mit Verstößen und Verbrechen gegen Migrant*innenen und Flüchtlinge in Libyen könnten wir Fälle vor Gericht bringen, um durch das Urteil zu bestätigen, dass dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an Migrant*innenen und Flüchtlingen begangen werden. Daraus könnte abgeleitet werden, dass die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von den libyschen Akteuren eingestellt werden muss.  

Strategische Gerichtsverfahren in diesem Zusammenhang können auch darauf abzielen, europäische Akteure für ihre Mittäterschaft an den Verbrechen und Verstößen gegen Migrant*innen und Flüchtlinge zur Rechenschaft zu ziehen und damit eine Änderung der Politik zu erreichen. 

Warum ist es für dich persönlich und in deiner beruflichen Funktion wichtig, in den Rettungseinsatz an Bord des Rettungsschiffes Humanity 1 zu gehen? 

Als Italienerin und als Person, die sich seit geraumer Zeit mit diesem Thema beschäftigt, fühle ich mich verpflichtet, einen Beitrag zu dieser Arbeit leisten, die mir sehr am Herzen liegt – und zwar nicht nur durch rechtliche und politische Arbeit, sondern auch durch den Einsatz auf See. 

Nachdem ich die Erfahrungen so vieler Überlebender gehört habe und insbesondere nachdem ich mit ihnen für den Dokumentarfilm von Forensis gearbeitet habe, will ich die  Ereignisse auf See tiefergehend verstehen und dem, was ich in meiner persönlichen und beruflichen Eigenschaft so oft gehört habe, eine lautere Stimme verleihen. 

"Ich hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, meine Überzeugungen – grundlegende Rechte, Würde und Sicherheit für alle - mit verschiedenen Mitteln in die Tat umzusetzen, trotz einer Politik der italienischen Regierung, der EU und anderer Akteure, die versucht, andere Menschen vom Erreichen unserer Küsten abzuhalten."

Deshalb schätze ich die Zusammenarbeit zwischen LFJL und SOS Humanity sehr: Sie baut auf unserer Arbeit zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und schweren internationalen Verbrechen gegen Migrant*innen und Flüchtlinge in Libyen auf. Im Namen von LFJL an Bord zu sein, ist eine wichtige Gelegenheit, um unser Verständnis und unser Wissen über die Umstände zu erweitern, mit denen  Menschen auf der Flucht bei ihren Versuchen, Libyen zu verlassen, konfrontiert sind. 

Durch die Zusammenarbeit mit SOS Humanity können wir unsere jeweilige Expertise erweitern und stärken. Ich hoffe, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzen und Menschen auf der Flucht in Zukunft noch umfassender unterstützen können. 

In deiner Rolle als Rechtsexpertin hast du in der Vergangenheit bereits mit SOS Humanity zusammengearbeitet. Kannst du darüber berichten, was wir gemeinsam erreicht haben? 

Ich habe meine Zusammenarbeit mit SOS Humanity im Jahr 2022 als ehrenamtliche Rechtsforscherin und Leiterin des Teams für die Rechte von Migrant*innen bei StraLi for Strategic Litigation begonnen. Gemeinsam mit UpRights haben SOS Humanity und StraLi an einem Projekt gearbeitet, das darauf abzielte, vor dem UN-Menschenrechtsausschuss einstweilige Maßnahmen zu erwirken, die verhindern, dass die sogenannte libysche Küstenwache Menschen in Seenot abfängt und nach Libyen zurückbringt. 

Am 4. März 2025 erließ der UN-Menschenrechtsausschuss erstmals eine beispiellose Entscheidung, in der er Malta aufforderte, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um eine Such- und Rettungsaktion zur Rettung der 32 Menschen in Seenot zu koordinieren und sicherzustellen, dass sie nicht an einen Ort gebracht werden, an dem ihnen Folter und andere Formen der Misshandlung oder Lebensgefahr drohen.  

Solche vorläufigen Maßnahmen können in der Tat als Präzedenzfall dienen, als rechtliches Instrument, mit dem wir hoffen, den Status quo und die derzeitige Politik der EU-Mitgliedstaaten zu ändern. 

The crew of SOS Humanity and the survivors on their way to Humanity 1.
Wanda Proft / SOS Humanity

Was motiviert dich, diese Arbeit zu tun und dich zu engagieren? 

Ich habe das Gefühl, dass ich die Pflicht habe, das zu tun, was ich tue,  weil ich einfach und aufrichtig glaube, dass wir alle Menschen sind, dass wir alle gleich sind, und dass wir daher auch die gleiche Sicherheit, Würde und die gleichen Chancen im Leben haben sollten. Ich habe beschlossen, meinen Teil durch rechtliche und politischeArbeit beizutragen. Ich habe das Privileg, diese Leidenschaft in meinem Beruf ausleben zu können, jeden Tag von wunderbaren Kolleg*innenen und Freund*innen zu lernen und mich von ihnen und ihrer Widerstandskraft ermutigen zu lassen, weiter für eine bessere Welt zu kämpfen. Mit an Bord zu sein, wird mir eine weitere Chance geben, mich dieser Aufgabe zu widmen, engagierte Kolleg*innenen kennenzulernen und meine Arbeit aus einer anderen Perspektive zu erleben.