Menschenrechte enden nicht auf dem Mittelmeer

Als Menschenrechtsbeobachter begleitet Louis (27) den aktuellen, 17. Einsatz an Bord der Humanity 1. Er studiert internationale Migration und interkulturelle Beziehungen. Louis ist sich sicher, dass die humanitäre Krise im Mittelmeer politisch erzeugt und beabsichtigt ist. Umso wichtiger ist es, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, damit die Gesellschaft von diesen erfährt.
Vor dem Einsatz:
Was bedeutet Menschlichkeit für dich und wieso engagierst du dich für die zivile Seenotrettung?
Für mich bedeutet Menschlichkeit, füreinander da zu sein. Das bedeutet auch, dass wir als Gesellschaft eine soziale und politische Verantwortung tragen. Diesen Beitrag können wir in der zivilen Seenotrettung leisten.

Du hast bereits als Praktikant in der Kommunikationsabteilung von SOS Humanity gearbeitet. Was hat dich dazu motiviert, diesen Einsatz als Menschenrechtsbeobachter zu begleiten? Wie hast du dich auf diese Rolle vorbereitet?
Schon lange verfolge ich die rechtliche und politische Lage der Seemigration übers Mittelmeer. Die Rolle des Menschrechtsbeobachters passt somit gut zu meinen Erfahrungen und Interessen. Außerdem hatte ich während meines Praktikums die Möglichkeit, das Rettungsschiff, Humanity 1, im Hafen in Syrakus zu besuchen und dort einen Teil der Crew kennenzulernen. Dieser Moment auf dem Schiff hat mich einem Einsatz direkt näher fühlen lassen.
Welche Erwartungen, Hoffnungen und Sorgen hast du mit Hinblick auf den kommenden Einsatz?
Ehrlich gesagt, habe ich keine Erwartungen, denn der Einsatz kann so unterschiedlich verlaufen. Ich hoffe natürlich, dass wir unsere Rettungen gut durchführen können und alle Menschen sicher bei uns an Bord gehen. Es könnte aber sein, dass die sogenannte libysche Küstenwache unsere Rettungen stört, dass uns die italienischen Behörden weit entfernte Häfen zuweisen, oder dass unser Rettungsschiff, Humanity 1, in Italien festgesetzt wird, sobald wir gerettete Menschen an Land gebracht haben. Das alles sind Sorgen, mit denen ich in den Einsatz fahre.
Nach dem Einsatz:
Deine Aufgabe ist es, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Kannst du uns von deinen Erfahrungen im Einsatz berichten?
Während meines Einsatzes wurde offensichtlich, wie systematisch Italien, Malta und die EU das Seerecht und die Menschenrechte ignorieren. Wir haben mehrmals Seenotfälle in der maltesischen Such- und Rettungszone mitbekommen. Das sind Fälle, deren Rettung Malta ausführen oder koordinieren muss. Wir haben über verschiedene Wege versucht, Malta zu erreichen, aber nie eine Antwort erhalten. Ich habe das Gefühl bekommen, Malta ignoriert Seenotfälle ganz bewusst, um sich unbemerkt der Verantwortung zu entziehen.

Welche Konsequenzen hat es, wenn Seenotfälle von den zuständigen Staaten ignoriert werden?
Vor allem kostet uns das Warten wertvolle Zeit; Zeit, in der Menschen ertrinken oder abgefangen und nach Libyen gebracht werden könnten. Die sogenannte libysche Küstenwache führt nämlich mittlerweile auch Pull-backs in der maltesischen SAR-Zone durch, was illegal ist. Einerseits, weil sie in dieser Zone nicht zuständig ist; andererseits, weil in Seenot geratene Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden müssen und Libyen nicht als sicherer Ort gilt.
Und welche Rolle spielt hierbei Italien?
Auch mit Italien ist die Kommunikation nicht immer einfach. Ein Beispiel: In der Nacht, nach unserer ersten Rettung, waren wir unterwegs, um dem Segelschiff Astral zur Hilfe zu kommen. Astral hat einem seeuntauglichen Boot beigestanden, aber sie hatten selbst nicht die Kapazität, die Menschen an Bord zu nehmen. Als wir vor Ort eingetroffen sind, haben wir mitbekommen, dass bereits ein Rettungsschiff der italienischen Küstenwache die Rettung durchführt. Natürlich ist das eigentlich eine gute Nachricht. Aber wenn uns von der italienischen Seenotrettungsleitstelle nicht Bescheid gegeben wird, kostet uns das mehrere Stunden Fahrt. Das ist Zeit, in der wir die vorher geretteten Menschen bei uns an Bord schon Richtung Land hätten bringen können.

Nach geltendem Seerecht müssen Gerettete zu dem nächstgelegenen sicheren Hafen, einem sogenannten Place of Safety, gebracht werden. Wird dieses Recht eingehalten?
Nach beiden Rettungen, die wir hatten, wurden uns weit entfernte Häfen – einer davon in Ravenna, also über 1600km entfernt vom Ort unserer Rettung – von Italien zugewiesen. Das ist eine Verletzung des Seerechts. Jeden Tag haben wir Italien um die Zuweisung eines näheren Hafens gebeten, aber wir wurden immer abgewiesen. Letztendlich haben wir mit über 70 Menschen an Bord, die teilweise im Regen auf dem Deck schlafen mussten, fünf Tage nach Ravenna gebraucht.
Mit welchen Herausforderungen sahst du dich als Menschenrechtsbeobachter im Einsatz konfrontiert?
Die größte Herausforderung war die Frustration, die solche Situationen auslösen. Da wir in Abhängigkeit von Italien und Malta handeln, sind wir auf ihre Entscheidungen angewiesen. Wir sind gut ausgestattet und trainiert und hätten so viel mehr Kapazitäten, um Rettungen durchzuführen. Aber momentan werden wir einfach nicht gelassen. Mir war klar:
Magst du uns von einem besonders eindrücklichen Moment während des Einsatzes erzählen?
Das erste Boot, dass wir retten konnten, haben wir nur durch Zufall gefunden. Zusammen mit einem anderen Crewmitglied stand ich mit meinem Fernglas auf dem obersten Deck. Das Boot war erst ganz klein am Horizont, kaum zu erkennen, aber als es sich bewegt hat, wurde uns klar, dass das ein Boot ist. Danach war ich auf der Brücke, um die Rettung zu dokumentieren und habe unter Adrenalin einfach funktioniert. Erst am Abend ist mir klar geworden, welche Relevanz unsere Suche hatte. Nur ein bisschen später und es wäre schon dunkel gewesen. Dann hätten wir das Boot mit Sicherheit nicht gesehen. Am Ende haben wir 43 Menschen gerettet, unter ihnen auch eine schwangere Frau und ein Kind. Wir wissen nicht, was ihnen sonst hätte passieren können oder ob irgendjemand einen möglichen Schiffbruch überhaupt mitbekommen hätte.

Wie du gerade schon geschildert hast, sind unter den Geretteten meist auch Kinder. Welche Auswirkungen hat die EU-Abschottungspolitik auf die Kinder?
Das erinnert mich an einen Moment an Deck, der mich besonders berührt hat. Ich habe gerade mit einem Kind gespielt. Wir hatten keine gemeinsame Sprache, aber haben zusammen gemalt und Bilderbücher angeschaut. Dann ist uns ein Report von SOS Humanity in die Hände gefallen. Das Kind hat auf ein Foto – ein überbesetztes Boot mit Menschen mit Schwimmwesten – und dann auf sich gezeigt. Es konnte die Szene, die es selbst erst am Tag davor auf dem Wasser erlebt hatte, direkt zuordnen. Es ist einfach krass, was diese Kinderaugen schon gesehen haben.
Menschrechte geraten immer mehr in Bedrängnis, auf See und an Land. Wie beeinflusst das die Seenotrettung und was würdest du Menschen raten, die sich für diese engagieren wollen, aber unsicher sind, wie sie helfen können?
Es ist offensichtlich, dass Malta, Italien und die EU versuchen Seenotrettungsschiffe zu behindern, um weniger Geflüchtete aufzunehmen. Einerseits indem sie die sogenannte libysche Küstenwache finanzieren und andererseits, indem sie uns aus dem Einsatzgebiet fernhalten, da wir immer wieder zu weit entfernten Häfen fahren müssen. Für uns ist das nicht nur zeitaufwendig, sondern auch kostspielig. Der einfachste Weg sich zu engagieren, wäre also zu spenden. Außerdem sind wir stärker, je mehr Menschen sich für die Seenotrettung einsetzen! Ihr könnt mit euren Bekannten über die Einsätze und Rechtsverletzungen sprechen und dadurch Aufmerksamkeit schaffen. Denn Italien und Malta müssen politisch und legal unter Druck geraten, um sich an geltendes Recht zu halten.
Danke Louis, für das Gespräch!