„Sie sagten zueinander: ‚Lasst sie sterben, das ist leichter für uns und für sie.‘“
Fidaa floh mit ihren fünf Kindern, von denen eins eine Behinderung hat, aus Syrien nach Jordanien, Libyen und dann über das Mittelmeer, wo sie zusammen mit 74 anderen Menschen im Juli 2024 von der Crew der Humanity 1 gerettet wurde.
[Inhaltswarnungen: Tod, Kindermissbrauch]
Syrien
Im Juli 2012 verließ ich mein Haus in einem der Vororte von Damaskus. Ich befand mich noch im Wochenbett, und mein jüngster Sohn, Jalil, war erst acht Tage alt. Mein Mann war vier Monate zuvor gestorben. Es war Nacht, als ich die ersten Rufe aus den Moscheen hörte, mit denen alle Bewohner des Viertels, insbesondere Frauen, Kinder und ältere Menschen, aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen und aus der Gegend zu fliehen.
Mein Bruder öffnete die Tür, stürmte herein und sagte mir, ich solle meine Kinder holen und sofort kommen, weil die mit dem syrischen Regime verbundenen Milizen in den umliegenden Vierteln Menschen umbrachten und auf dem Weg zu uns seien.
Ich schnappte mir mein Kleinkind, meine beiden Töchter im Alter von zwei und vier Jahren und meinen autistischen Sohn Adil und wir eilten aus dem Haus. In meiner Eile vergaß ich, dass mein ältester Sohn Faris, der etwa acht Jahre alt war, noch im Haus seines Großvaters war.
Auf dem Platz in der Nachbarschaft wurden alle Frauen und Kinder eingesammelt, in Autos gesetzt und so schnell wie möglich weggebracht, denn die Nachricht hatte uns erreicht, dass die Milizen alle mit Kugeln und Messern töteten und keinen Unterschied zwischen Frauen, Kindern und Älteren machten.
Als wir ein sicheres Gebiet erreichten, realisierte ich, dass mein Sohn Faris nicht bei mir war. Ich rannte zu meiner Schwester und ihrem Mann – die mit uns gekommen waren – und flehte sie an, mit mir zurückzugehen, aber sie sagten mir, dass es unmöglich sei, zurückzugehen, und dass die Milizen mich und meine Kinder töten würden, wenn ich das täte. Am nächsten Tag wurden wir in das Dorf meiner Eltern in Daraa, einer Stadt im Süden Syriens, gebracht. Mein Sohn blieb in Damaskus, ohne, dass ich wusste, ob er noch lebt oder schon tot ist. Ich konnte das Haus seines Großvaters nicht erreichen, da die Kommunikation komplett unterbrochen war. Nachdem meine Brüder drei Tage lang gesucht und nach meinem Sohn und seinen Großeltern gefragt hatten, fanden sie sie und schickten meinen Sohn mit einer bekannten Familie zu mir.
Eines Tages schlug eine Granate vor dem Keller ein, in dem wir uns versteckt hatten.
Als sich die Kämpfe in Daraa, einer Grenzprovinz zu Jordanien, verschärften, flüchteten viele nach Jordanien, also nahmen wir, was wir tragen konnten, und verließen Syrien.
Jordanien
Wir kamen in Jordanien im Lager für Geflüchtete Zaatari an. Dort lebten wir in einem Zelt, es gab keine Toiletten oder irgendetwas von dem, was man für ein anständiges Leben braucht. Die Sommer waren unerträglich heiß und die Winter richtig kalt.
Im Jahr 2014 wurde mein Sohn Adil im Alter von sechs Jahren vor unserem Wohnort entführt, um ihn sexuell zu missbrauchen. Der Mann erkannte zunächst nicht, dass mein Sohn behindert ist, aber als er begann, sich ihm zu nähern, fing mein Sohn an zu schreien und unwillkürliche Bewegungen zu machen, die nur schwer zu kontrollieren waren, also warf der Mann ihn auf die Straße, um ihn loszuwerden.
Danach gelang es meinen Kindern und mir, aus Zaatari in eine jordanische Stadt zu fliehen und dort für fast vier Jahre ein Haus zu mieten. Der UNHCR in Jordanien hörte auf uns zu helfen, weil wir nicht mehr im Lager lebten. Die jordanischen Behörden hinderten alle humanitären Organisationen daran, den Menschen außerhalb der Lager Hilfe zu leisten, unter dem Vorwand, dass sie nicht genug Unterstützung von Geberländern und der UNO bekamen.
Irgendwann konnte ich es mir nicht mehr leisten, meine Familie allein zu versorgen. Ich hörte von Leuten und sah im Internet, dass viele Menschen nach Libyen reisten und von dort aus nach Europa aufbrachen, und so beschloss ich, diese Reise zu machen, nachdem ich zehn Jahre lang in Jordanien geblieben war.
Libyen
Wir wohnten kurz in einem Haus [in Tripolis], aber schon bald sagten uns die Schmuggler, dass wir zu den „Lagerhäusern“ gehen sollten, wo sie die Menschen sammeln, bevor sie sie auf Boote nach Italien schicken. Wir kamen in der Annahme an, dass wir am nächsten Tag abreisen würden, aber wir blieben ein ganzes Jahr lang dort.
Jeden Tag brachten sie uns nur vier Stücke Brot, und wir waren eine sechsköpfige Familie. Wir waren immer hungrig. Sauberes Wasser gab es fast gar nicht. Alle zwei Tage brachten sie uns ein paar Flaschen Wasser, die wir destillierten, damit wir nicht verdursteten. Die Hitze war unerträglich, und wir durften den Ort nicht verlassen, da die Außentüren verschlossen und bewacht waren.
Schließlich brachten sie ein sieben Meter langes Boot, in das sie 79 Passagiere, einschließlich uns, quetschten. Es dauerte nicht länger als vier Stunden, bis die libysche Küstenwache uns einholte. Das Wasser drang in das Boot ein und erreichte eine Höhe von 15 Zentimetern.
Als die libysche Küstenwache eintraf, begannen sie, alle jungen Männer zu verprügeln. Drei junge Männer sprangen wegen den schweren Schlägen, die sie erleiden mussten, ins Meer.
Als wir an Bord des Schiffes der Küstenwache gingen, sah mein Sohn Adil, der an Autismus leidet, die bewaffneten Männer, die mit Gewehrkolben auf die jungen Männer einschlugen, und er lachte über sie. Er verstand nicht, was geschah, aber die Soldaten dachten, Adil würde sich über sie lustig machen, also schlugen sie mit den Gewehren auf ihn ein, und er fiel in Ohnmacht.
Ich schrie sie an und sagte ihnen, dass der Junge nicht versteht, was geschieht. Später, als ich den Schmuggler bat, einen Teil unseres Geldes zurückzugeben, da die Reise gescheitert sei, sagte er: „Nein, ich werde das Geld nicht zurückgeben. Ich werde euch auf ein anderes, besseres Boot schicken.“
Insgesamt haben wir acht Versuche unternommen, allerdings mit mehr als einem Schmuggler und von verschiedenen Orten aus. Sie behandelten uns buchstäblich wie Tiere, mit Schlägen, Beleidigungen, Demütigungen, Beschränkungen beim Rein- und Rausgehen und ständigem Hunger.
Schließlich begaben wir uns von Tobruk in der Nähe von Benghazi auf die schlimmste Reise aller Zeiten. Sie setzten uns auf ein großes Fischerboot mit vierhundert Menschen und sagten uns, dass die Reise sechs Tage dauern würde, um Italien zu erreichen. Die Wellen waren vier Meter hoch. Schlimmer noch, die Schmuggler hatten ein eisernes Vordach auf das Boot gebaut und hundert Menschen daraufgesetzt. Nach zehn Stunden brachen durch die Bewegung des Schiffes und die hohen Wellen die Balken dieses Vordachs auseinander und fielen auf unsere Köpfe, und die hundert Menschen, die sich darauf befanden, fielen zwischen uns, obwohl wir bereits übereinandersaßen.
Das Boot war voller Kinder, und alle schrien und flehten um Hilfe. Man hatte uns vor dem Einsteigen gesagt, es gäbe Schwimmwesten, Rettungsringe und andere Sicherheitsausrüstung für den Fall eines Schiffbruchs, aber das war alles gelogen. Der Kapitän des Bootes rief den Schmuggler an und teilte ihm mit, dass alle Familien zurückkehren wollten und die Wasserpumpe des Bootes ausgefallen war. Der Schmuggler bot dem Kapitän 300.000 libysche Dinar, wenn er die Reise nach Italien fortsetzen würde.
Als der Kapitän ihm sagte, dass das Boot es in diesem Zustand nicht schaffen würde, forderte der Schmuggler ihn auf, uns entweder ertrinken zu lassen oder den Weg fortzusetzen, aber er dürfe uns unter keinen Umständen nach Libyen zurückbringen.
Dann kam der Assistent des Kapitäns und überredete ihn, umzukehren, um nicht all diese Kinder und Frauen ertrinken zu lassen. Aufgrund der Größe des Bootes mussten wir hundert Meter vor dem Ufer anhalten. Obwohl die Gegend voller Patrouillen, Küstenwachen und Milizen war, kam niemand, um uns zu helfen. Die jungen Männer auf dem Boot begannen, allen Familien und Kindern zu helfen, das Ufer zu erreichen. Sie schleppten jede Person, die nicht selbst schwimmen konnte, ans Ufer und kehrten dann zurück, um die nächste zu holen. Ich war die Letzte, die vom Boot sprang, nachdem ich meine Kinder eines nach dem anderen ins Wasser gesetzt hatte.
Die Männer, die mit den Schmugglern zusammenarbeiten, warteten auf die Ankommenden und schlugen die Menschen mit Stöcken. Nachdem das Boot geleert war und sich niemand mehr darauf befand, fuhren sie mit einem Schnellboot zu dem Boot, enterten es und stahlen alle zurückgelassenen Habseligkeiten.
Rettung
Als wir das letzte Mal versuchten, das Meer zu überqueren, war das Satellitentelefon, das uns der Schmuggler für Notfälle mitgegeben hatte, leer und hatte kein Guthaben mehr, der Treibstoff des Motors war völlig verbraucht und Wasser lief in das Boot.
Wir sahen ein Flugzeug, aber wir waren zunächst pessimistisch, denn als das letzte Mal ein Flugzeug kam und uns filmte, folgte danach sofort die libysche Küstenwache und brachte uns zurück an die Küste.
Als wir [euer Schiff] sahen, waren wir zunächst erschrocken, weil wir euch für die libysche Küstenwache hielten, zumal eure Schnellboote ähnlich aussehen. Aber als wir näherkamen und feststellten, dass ihr es nicht seid, trauten wir unseren Augen nicht.
Tatsächlich können wir immer noch nicht glauben, dass wir in Sicherheit sind, selbst wenn wir mit euch sprechen. Es kommt uns immer noch wie ein Traum vor. Aber Gott sei Dank habt ihr uns gefunden. Hier an Bord kann ich sehen, wie anders die Behandlung durch eure Crew ist.
[Dieses Interview wurde von Lukas Kaldenhoff, Kommunikationskoordinator, während des 13. Rettungseinsatzes von der Humanity 1 geführt und aus dem Arabischen übersetzt.]