Der Alternative Nobelpreis für SOS Mediterranee
Eine Anerkennung für die Arbeit der zivilen Seenotretter und eine Mahnung für den Schutz der Menschenrechte im Mittelmeer
Von Klaus Vogel, Kapitän und Historiker, Gründer von SOS Mediterranee
Die Verleihung des „Right Livelihood Award 2023“, auch „Alternativer Nobelpreis“ genannt, an die europäische Seenotrettungsorganisation SOS Mediterranee ist eine große Anerkennung und ein Zeichen der Wertschätzung für die Arbeit der zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter im Mittelmeer. Dieses Signal für Menschlichkeit kommt genau zur richtigen Zeit. Der Alternative Nobelpreis würdigt mit dem 2015 von uns in Berlin gegründeten europäischen Netzwerk SOS Mediterranee all diejenigen, die sich mit voller Kraft für die Rettung von Menschen im Mittelmeer einsetzen und sie unterstützen, darunter auch alle Mitglieder und Unterstützer von SOS Humanity, die ihrem ehemaligen europäischen SOS Med Verbund in besonderer Weise verbunden sind.
Als Kapitän der Handelsschifffahrt habe ich im November 2014 nach dem Abbruch der italienischen Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“ meine langjährige Tätigkeit bei der Reederei Hapag-Lloyd aufgegeben und mich seit Anfang 2015 für den Aufbau einer zivilen, europäischen Rettungsorganisation im Mittelmeer unter dem Namen SOS Mediterranee eingesetzt. Gemeinsam mit europäischen Bürgerinnen und Bürgern haben wir SOS Mediterranee als europäisches Netzwerk am 9. Mai 2015 in Berlin gegründet, getragen von Vereinen in Deutschland, Frankreich, Italien und später in der Schweiz. Gemeinsam haben wir seit Januar 2016 das Rettungsschiff Aquarius und seit 2019 die Ocean Viking betrieben. Bis Ende 2021 haben wir mit beiden Rettungsschiffen 34.631 Kinder, Frauen und Männer vor dem Ertrinken gerettet und an einen sicheren Ort gebracht.
Im Januar 2022 hat sich der deutsche Gründungsverein vom Netzwerk SOS Mediterranee gelöst, um als SOS Humanity mit einem eigenen Schiff, der Humanity 1, im zentralen Mittelmeer mehr Menschen zu retten zu können. Mit der Erfahrung von sieben Jahren SOS Mediterranee haben wir seit August 2022 mit der Humanity 1 weitere 1.608 Menschen gerettet. Möglich gemacht haben dies viele engagierte Bürgerinnen und Bürger sowie unsere humanitären Partnerorganisationen, die dem Sterben nicht tatenlos zusehen wollen und unsere Rettungseinsätze weiter nachhaltig unterstützen.
Zugleich ist es erschütternd zu erleben, dass wir in unserer freiheitlichen Europäischen Union, die sich noch im Dezember 2000 mit einer Charta zum Schutz der allgemeinen Menschenrechte verpflichtet hat, im Einsatz für die Rettung Schutzsuchender im Mittelmeer nicht nur gefördert, sondern zugleich immer wieder blockiert und behindert werden. Bis heute verweigern sich viele europäischen Regierungen der Pflicht, Menschen in höchster Lebensgefahr vor ihrer Tür zu retten und in Sicherheit zu bringen.
Von großen Teilen der europäischen Politik wird das Mittelmeer als Bollwerk gegen Migranten eingesetzt. In diesem tiefen Graben vor Europa liegen Hunderte gesunkene Flüchtlingsboote und Tausende Leichen. Es sind Massengräber vor der Küste Europas. Mit den von uns gewählten Politikern tragen wir als Bürger von Europa dafür die Verantwortung. Eines nicht fernen Tages werden Historiker fragen, warum es die Bürger und Politiker von Europa wissentlich zugelassen haben, dass im Mittelmeer viele Tausende in höchster Not befindliche, unschuldige Menschen starben.
Die konkrete Politik der Europäischen Union an ihren Außengrenzen wie dem Mittelmeer ist zunehmend von Abwehr und von Angst gesteuert, sie ist unmenschlich, fremdenfeindlich und rassistisch. Diese Politik muss sofort beendet werden. Für Flüchtende müssen wir alternative, sichere Wege schaffen. Wenn Menschen in Lebensgefahr sind, müssen wir sie retten und beschützen. Ohne Humanität kann Migration nicht positiv gestaltet werden. Wir müssen weiter alles dafür tun, um Flüchtende auf dem Mittelmeer zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen – im Einklang mit dem See- und Völkerrecht und unseren humanitären Werten. Dazu brauchen wir eine staatlich koordinierte, von der Zivilgesellschaft mitgetragene europäische Seenotrettung. Nur so können wir die solidarische, auf universelle Menschenrechte gestützte europäische Demokratie bewahren.