Hintergrund Tunesien: Kein sicherer Ort für Schutzsuchende

Gerettete und Crew-Mitlgieder blicken aus den Fenstern der Humanity 1 auf das Meer Richtung Italien.
Raphael Schumacher / SOS Humanity

Überlebende an Bord der Humanity 1 berichten von schweren Menschenrechtsverletzungen in Tunesien während EU Deal mit Tunesien zur Migrationsabwehr vorantreibt.

Inhaltswarnung: Der Text beschreibt explizit unterschiedliche Formen von (sexualisierter) Gewalt.

„Meine Frau war schwanger und sie schlugen sie, verprügelten sie. Sie blutete da unten, musste sich übergeben und so weiter. Wir fuhren ins Krankenhaus. Die Ärzte sagten mir, es gäbe keinen Platz für sie. […] Ich habe mein Baby verloren. Ich habe mein Baby wegen der Gewalt verloren.“ Demsy* kommt von der Elfenbeinküste und wurde von der Besatzung der Humanity 1 im Juli 2023 gerettet. Zusammen mit seiner Frau floh er auf einem kleinen, seeuntüchtigen und überbesetzten Eisenboot aus Tunesien.

Tunesien ist kein sicherer Ort für Flüchtende. Die Geschichten der Menschen, die SOS Humanity aus Seenot retten konnte, bestätigen dies auf dramatische Art und Weise. Mehr als 400 Menschen aus neun Booten in Seenot konnten allein im Juli 2023 von der Besatzung der Humanity 1 auf ihrer Flucht aus Tunesien gerettet werden. An Bord der Humanity 1 berichten sie von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in Tunesien.  Seit der rassistischen Brandrede des autoritären Präsidenten Saied im Februar 2023 ist die Gewalt gegen und Diskriminierung von Minderheiten und insbesondere Menschen aus Sub-Sahara Afrika eskaliert. Mobs ziehen durch die Straßen und brechen in Wohnungen ein. Wegen ihrer Hautfarbe allein werden Menschen geschlagen, beraubt, missbraucht, gefoltert und vergewaltigt. Seit Anfang Juli 2023 schieben tunesische Sicherheitskräfte schwarze Migrant*innen und Flüchtlinge in die Wüste an die libysch-tunesischen und algerisch-tunesischen Grenze ab – ohne Zugang zu Wasser, Nahrung, Sonnenschutz und Gesundheitsversorgung. Es wurden bereits mehrere Todesfälle und zahlreiche medizinische Notfälle gemeldet. Die Massenabschiebungen ohne rechtsstaatliche Verfahren sind ein massiver Verstoß gegen internationales Recht. 

Boot mit schwarzem Hintergrund beleuchtet von der Humanity 1 nachts auf dem Mittelmeer
Raphael Schumacher / SOS Humanity

An Bord der Humanity 1 berichtete Mariam*, die aus Tunesien floh, von alltäglicher und willkürlicher Gewalt in Tunesien: „Die Tunesier sehen dich, und nur weil du ein Telefon hast und auf der Straße vorbeigehst, schlagen sie eine Frau. Nur weil du telefonierst, können sie dich abstechen, dich mit Messern bedrohen, und die Polizei tut nichts.“ 

Romeo* von der Elfenbeinküste, der ebenso aus Tunesien floh und von der Crew der Humanity 1 gerettet werden konnte, wurde vor seiner Flucht brutal misshandelt und wird sein Leben lang die Konsequenzen tragen: „Eines Tages war ich sehr krank und sagte, ich könne nicht zur Arbeit gehen. Sie nahmen eine Eisenstange und fingen an, auf mich einzuschlagen, es zerriss meine Haut genau hier [zeigt verschiedene Narben]. Ich musste mein Gesicht schützen, weil ich sonst blind geworden wäre […] Ich spüre oft den Schmerz. […] Einer meiner Hoden wurde zerstört. Das ist es, was sie getan haben. Einer ist zerstört, nur einer ist übrig.“ 

Die Berichte von Geretteten bestätigen auch, dass Verletzen oder Schwangeren der Zugang zu Gesundheitsversorgung verwehrt wird. So berichtet Ange*, die die Überfahrt in einem kleinen, seeuntüchtigen und überbesetzten Eisenboot antrat, der Crew der Humanity 1 im Juli 2023: „Wenn du schwarz bist, und du gehst in ein Krankenhaus, wirst du dort nicht beachtet. Du wirst dort sterben. Selbst, wenn man schwanger ist oder mit kleinen Kindern dort ist, wird man nicht behandelt. Tunesien ist ein furchtbares Land. Wir können dort nicht leben. Deshalb haben wir uns mit den Kindern aufs Mittelmeer gewagt.“ 

„Unter den Geretteten befanden sich auch zahlreiche Überlebende von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt“, erklärt Olive, Schutzbeauftragte an Bord, die neben den direkten Erfahrungsberichten weitere zahlreiche Fälle von sexualisierter und gender-basierter Gewalt dokumentierte:  

„Ich spreche von Zwangsheirat, Kinderheirat sowie Frauen, die wiederholt sexuelle Übergriffe erlebt haben. Dass diese Frauen in Tunesien feststecken, ist eine kritische Situation. Sie sind eine Gruppe, die in jeder Phase der Migration unverhältnismäßig stark von Gewalt betroffen ist.“ 

Europäische Abschottungspolitik verschärft die Gewalt – EU-Deal mit Tunesien zur Migrationsabwehr muss beendet werden 

Trotz der Menschenrechtsverletzungen treibt die EU – unter der Federführung der EU-Kommission sowie der post-faschistischen Regierung von Giorgia Meloni – einen Deal mit Tunesien zur Migrationsabwehr voran. Mitte Juli wurde eine gemeinsame Absichtserklärung unterzeichnet, welche eine „strategische Partnerschaft“ mit bis zu 1 Milliarde Euro für Tunesien vorsieht, darunter 105 Millionen Euro allein um die Zusammenarbeit bei Rückführungen und Grenzschutz mit tunesischen Behörden zu verstärken. Die von der EU-Kommission und EU-Mitgliedstaaten vorgelegten Pläne, Länder wie Tunesien zu sogenannten sicheren Drittstaaten zu erklären, tragen darüber hinaus dazu bei, die Gewalt und Willkür gegenüber schutzsuchenden Menschen in Tunesien zu legitimieren. Damit unterstützt die EU eine zunehmend autoritäre Regierung, welche Oppositionelle inhaftiert, die Meinungsfreiheit und die Rechte von Frauen, LGBTQI+ sowie weiteren Gruppen einschränkt und die Unabhängigkeit der Justiz aushöhlt. Tunesien ist weder ein sicherer Ort für Flüchtlinge und Migrant*innen noch für viele tunesische Staatsbürger*innen. 

Gerettete an Bord der Humanity 1 von hinten mit Blick aufs Mittelmeer.
Raphael Schumacher / SOS Humanity

Fehlende sichere Fluchtwege sowie die restriktive Migrationspolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zwingen Schutzsuchende auf immer gefährlichere Routen. Seit mehr als einem Jahrzehnt unterstützen die EU und ihre Mitgliedstaaten den tunesischen Staat bei der Kontrolle seiner Grenzen und der Eindämmung der Migration nach Europa.  

Ähnlich wie in Libyen sind die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten dabei, die systematische Willkür und Gewalt gegenüber schutzsuchenden Menschen zu normalisieren. Die EU beabsichtigt, Tunesien zum Grenzwächter Europas zu machen – koste es was es wolle. Durch die Unterstützung des tunesischen Grenzschutzes, unterbinden und behindern die EU und ihre Mitgliedstaaten die Wahrnehmung des Menschenrechts, jedes Land verlassen zu dürfen (einschließlich des eigenen Herkunftslands) sowie das Recht auf Asyl. Ferner machen sie sich an Menschenrechtsverletzungen in Tunesien mitschuldig.  

„In den Jahren, die wir in Tunesien verbrachten, hatten wir keine Freude“, erzählt Ange* und richtet einen Appell an Europa: „Wenn Europa uns wieder glücklich machen könnte, uns einfach als Menschen nehmen würde, wäre das schön, wir sind Menschen. Schwarze Haut ist nicht anders. Gott hat sie uns gegeben. […] Ich bitte nur darum, [dass sie] uns nicht wie Tiere sehen. Wir sind menschliche Wesen. […] Wenn sie mich schneiden, dann fließt Blut; wenn sie dich schneiden, dann fließt Blut. Für mich wäre es nicht grün, für dich wäre es nicht schwarz. Es ist das gleiche Blut, ja oder nein?“

Meer, Wellen, Blau, orange Rettungsweste im Hintergrund
Arez Ghaderi / SOS Humanity
Wir fordern:

Angesichts der dokumentierten Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gegenüber schutzsuchenden Menschen in Tunesien fordert SOS Humanity die EU und ihre Mitgliedsstaaten eindringlich dazu auf:

Sicherzustellen, dass aus Seenot gerettete Personen nicht nach Tunesien zurückgebracht werden. Tunesien kann nach geltendem internationalem Recht nicht als sicherer Ort für aus Seenot Gerettete gelten.  

Sich nicht an Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüchen in Tunesien und auf See zu beteiligen. Indem die EU unter anderem Gelder für tunesische Sicherheitskräfte bereitstellt, macht sie sich mitschuldig an den begangenen Verbrechen. 

Jegliche Kooperation mit Tunesien, die zu Einschränkungen von Flüchtlingsrechten führt, muss beendet werden. 

SOS Humanity hat außerdem gemeinsam mit anderen Organisationen ein Statement mit Forderungen an unter anderem die europäische Kommission, die tunesische Regierung und die Vereinten Nationen, aber auch internationale Organisationen wie UNHCR und IOM unterzeichnet.

 

*Name geändert und nicht auf den Fotos abgebildet.

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