5 Jahre „Malta-Erklärung“: Abschottung der EU um jeden Preis
03.02.2022. Trotz massiver Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Libyen hält die EU weiter an der Unterstützung, Ausbildung und Finanzierung der libyschen Küstenwache fest, damit flüchtende Menschen nicht über das Mittelmeer in die EU gelangen. Diese Kooperation wurde heute vor fünf Jahren, am 3. Februar 2017, mit der „Malta-Erklärung“ des Europäischen Rats festgelegt – mit dramatischen Folgen für den Schutz der Menschenrechte und die Prinzipien des Seerechts.
Durch die Umsetzung der „Malta-Erklärung“ werden aus Libyen über das Mittelmeer flüchtende Menschen jährlich zu Zehntausenden von der libyschen Küstenwache gewaltsam abgefangen und in unmenschliche, überfüllte Internierungslager gebracht, aus denen sie meist abermals zu fliehen versuchen. Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl dieser Pull-backs durch die libysche Küstenwache gegenüber dem Vorjahr fast verdreifacht: Über 32.000 Menschen wurden gewaltsam nach Libyen zurückgeschleppt, wie die UN-Organisation IOM in Libyen dokumentiert hat (1).
„Die europäischen Staaten lagern ihre Pflicht zur Seenotrettung einfach an Libyen aus. Die EU begeht durch den gezielten Aufbau und die fortgesetzte Finanzierung der libyschen Küstenwache Beihilfe zum Völkerrechtsbruch“, kritisiert Maike Röttger, Geschäftsführerin der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS Humanity, die bis Ende 2021 SOS Mediterranee hieß. „Das Seerecht schreibt vor, Schiffbrüchige an einem sicheren Ort an Land zu bringen. Libyen mit den Internierungslagern für Geflüchtete und Migranten, in denen vielfache Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, ist kein sicherer Ort. Somit sind diese von der EU herbeigeführten Pull-backs rechtswidrig.“
In den letzten fünf Jahren wurde Libyen von der EU mit über 57 Millionen Euro dabei unterstützt, eine libysche Rettungsleitstelle aufzubauen und eine libysche Such- und Rettungszone einzurichten, die mit der „Malta-Erklärung“ ins Leben gerufen worden war. Eine libysche Küstenwache wurde ausgebildet und sukzessive mit Schiffen ausgestattet. Die völkerrechtswidrige Abfangarbeit der libyschen Küstenwache wurde somit immer effizienter. Insgesamt wurden seit 2017 über 87.800 Menschen abgefangen und in die Internierungslager in Libyen gebracht (2).
„Die Geretteten an Bord unserer Rettungsschiffe berichten seit Jahren von Folter, Versklavung und sexualisierter Gewalt in Libyen“, erklärt Maike Röttger. „Spuren dieser Misshandlungen haben wir vielfach an Bord bezeugt. Es ist absolut inakzeptabel, dass die EU um jeden Preis ihre Außengrenzen abschottet und hierfür diesen Kreislauf von Flucht, gewaltsamen Rückführungen, systematischen Menschenrechtsverletzungen und abermaliger Flucht fördert. SOS Humanity fordert, dass die EU die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache beendet und stattdessen ein europäisches Seenotrettungsprogramm einrichtet. Diese Fluchtverhinderungstaktik der EU ist unmenschlich und führt nicht dazu, dass weniger Menschen aus Libyen fliehen.“
Hintergrund
Die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Tunesien Richtung Italien und Malta ist bis heute eine der meist genutzten und gefährlichsten Fluchtwege in die EU. 2021 war das tödlichste Jahr seit 2017, mindestens 1.550 Männer, Frauen und Kinder starben bei dem verzweifelten Versuch in Sicherheit zu gelangen (3).
Als zivile Seenotrettungsorganisation hat SOS Humanity (bis Ende 2021 in Deutschland unter dem Namen SOS Mediterranee auftretend) die menschenverachtenden Folgen der „Malta-Erklärung“ vom 3. Februar 2017 immer wieder bezeugt. Weder die libysche Küstenwache noch die libysche Rettungsleitstelle handeln im Einklang mit geltendem Völkerrecht. Entgegen ihrer seerechtlichen Pflichten ist die libysche Rettungsleitstelle oft stunden- oder gar tagelang nicht erreichbar und leitet lebenswichtige Informationen zu Booten in Seenot nicht an umliegende Schiffe weiter, verzögert damit Rettungen und bringt Menschenleben akut in Gefahr, wie SOS Humanity mit Daten von Bord ihres Rettungsschiffes dokumentiert hat (s. Bericht: „Völkerrecht über Bord. Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert“). Zivile Seenotrettungsorganisationen haben wiederholt belegt, wie die libysche Küstenwache bei ihren Einsätzen Menschen in Seenot gefährdet, teilweise unter Einsatz von Waffengewalt.
Die Rückführungen der flüchtenden Menschen nach Libyen durch die libysche Küstenwache stellen keine rechtmäßige Seenotrettung dar, denn diese müsste an einem Ort enden, wo den Geretteten nicht länger Gefahr droht und damit nicht in Libyen. Die willkürlichen Inhaftierungen – aktuell sind nach UN-Angaben über 12.000 Menschen in den libyschen Lagern inhaftiert (4) – und die systematischen Menschenrechtsverletzungen dort sind vielfach belegt, von den Flüchtenden, u.a. aktuell von @RefugeesinLibya, von der UN und UN-Unterorganisationen und zahlreichen Menschenrechtsorganisationen.
SOS Humanity hat seit Beginn ihrer Rettungseinsätze 2016 im SOS Mediterranee-Verbund mehr als 34.600 Menschen im zentralen Mittelmeer gerettet. An Bord berichteten diese von massiven Menschenrechtsverletzungen in Libyen. Manche von ihnen hatten bereits bis zu fünf Mal versucht zu fliehen, trotz des hohen Risikos. Immer wieder wurden sie von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht.
Seit 2017 hat die EU die libysche Küstenwache durch ihre Ausbildung, Ausrüstung und Finanzierung dabei unterstützt, mindestens 87.800 Menschen völkerrechtswidrig in das Land zurückzuzwingen, aus dem sie geflohen sind. Die Unterstützung der EU hate nicht dafür gesorgt, dass die libysche Küstenwache See- und Rettungseinsätze im Einklang mit geltendem Recht durchführt, sondern macht ihre völkerrechtswidrige Abfangarbeit lediglich effizienter. 2021 hat die libysche Küstenwache in einem Jahr 32.400 Menschen auf der Flucht abgefangen – fast dreimal so viele wie im Vorjahr. Schutzsuchenden wird auf diese Weise systematisch der Zugang zu Sicherheit versperrt.
(1) IOM Libya:
(2) IOM Missing Migrants Project und IOM Libya / Twitter)
(3) IOM Missing Migrants Project
(4) AP News 18.01.2022
Pressekontakt:
Petra Krischok
Press and Public Relations Officer / Pressesprecherin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit
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