Gemeinsame Erklärung ziviler Seenotrettungsorganisationen: Mehr Tote im Mittelmeer durch neues Dekret der italienischen Regierung

Max Cavallari / SOS Humanity

5. Januar 2023. In einer heute veröffentlichten, gemeinsamen Erklärung (Originaltext s.u.) warnen 20 in der Seenotrettung aktive Hilfsorganisationen, darunter SOS Humanity, Ärzte ohne Grenzen und Sea-Watch, vor mehr Toten im zentralen Mittelmeer als Folge eines neuen Dekrets der italienischen Regierung.

Eine der neu auferlegten Regeln des am Montag vom italienischen Präsidenten unterzeichneten Dekrets ist, dass zivile Rettungsschiffe nach jeder Rettung den zugewiesenen italienischen Hafen sofort anlaufen und andere offene Seenotfälle ignorieren sollen. Dies widerspricht jedoch der Pflicht zur Rettung nach internationalem Seerecht und bedeutet im Ernstfall mehr Tote, betonen die Nichtregierungsorganisationen. Das Dekret fordert zudem von Kapitäninnen und Kapitänen, Asylverfahren bereits an Bord einzuleiten. Dies entbehrt laut der Stellungnahme der Organisationen einer rechtlichen Grundlage.

Die unterzeichnenden zivilen Organisationen kritisieren, dass ihre lebensrettende Arbeit durch das Dekret weiter behindert und erschwert werden soll: Bei Verstößen gegen das neue Dekret drohen Geldstrafen von bis zu 50.000 Euro, eine zweimonatige Festsetzung der Rettungsschiffe und bei Wiederholung deren Beschlagnahmung.

Insgesamt widerspricht das italienische Dekret dem internationalen Seerecht, den Menschenrechten und europäischem Recht, so die Hilfsorganisationen. Sie fordern die Europäische Kommission, das Europäische Parlament sowie die europäischen Mitgliedstaaten dazu auf, sich für die Einhaltung dieses geltenden Rechts einzusetzen. Italien muss das Dekret umgehend widerrufen, so die Unterzeichnenden.

 

GEMEINSAME ERKLÄRUNG:

Neues Dekret behindert die Rettung von Menschen aus Seenot und wird zu mehr Toten führen

Wir, zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Such- und Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer einsetzen, sind äußerst besorgt über den jüngsten Versuch einer europäischen Regierung, zivile Seenotrettungsorganisationen daran zu hindern Menschen aus Seenot zu retten.

Ein neues Gesetzesdekret, das am 2. Januar 2023 vom italienischen Präsidenten Sergio Mattarella unterzeichnet wurde, wird die Rettungskapazitäten auf See reduzieren und damit das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, noch gefährlicher machen. Das Dekret zielt vordergründig auf Seenotrettungsorganisationen ab, doch den wahren Preis werden die Menschen zahlen, die über das zentrale Mittelmeer fliehen müssen und in Seenot geraten.

Seit 2014 füllen zivile Rettungsschiffe die Lücke, die europäische Staaten nach der Einstellung ihrer staatlich geführten Seenotrettungseinsätze bewusst hinterlassen haben. Zivile Organisationen haben seitdem eine wesentliche Rolle dabei gespielt, diese Lücke zu schließen und weitere Tote auf See zu verhindern, wobei sie sich konsequent an geltendes Recht halten.

Trotzdem haben EU-Mitgliedstaaten – allen voran Italien – jahrelang versucht, zivile Such- und Rettungsaktivitäten durch Diffamierung, administrative Schikanen und Kriminalisierung von Seenotrettungsorganisationen und Aktivist:innen zu behindern.

Es gibt bereits einen umfassenden Rechtsrahmen für Such- und Rettungsmaßnahmen, nämlich das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) und das Internationale Seenotrettungsübereinkommen (SAR-Konvention). Die italienische Regierung hat jedoch eine weitere Reihe von Vorschriften für zivile Rettungsschiffe eingeführt, die Rettungsmaßnahmen behindern und Menschen in Seenot weiter gefährden.

Unter anderem verlangt die italienische Regierung von zivilen Rettungsschiffen, dass sie nach jeder Rettung sofort nach Italien fahren. Dies verzögert weitere Rettungsaktionen, da die Schiffe in der Regel mehrere Rettungseinsätze über einige Tage hinweg durchführen. Die Anweisung an zivile Seenotrettungsorganisationen, sofort einen Hafen anzulaufen, während sich andere Menschen in Seenot befinden, widerspricht der im SRÜ verankerten Pflicht von Kapitän:innen, Menschen in Seenot unverzüglich Hilfe zu leisten.

Dieser Teil des Dekrets wird durch die jüngste Strategie der italienischen Regierung verschärft, häufig weit entfernte Häfen zuzuweisen, die bis zu vier Tage Fahrt von der jeweiligen aktuellen Position des Schiffes erfordern.

Beide Faktoren führen dazu, dass zivile Rettungsschiffe über längere Zeiträume aus dem Rettungsgebiet ferngehalten werden und dort weniger Menschen aus Seenot retten können. Die zivilen Seenotrettungsorganisationen sind aufgrund eines fehlenden staatlichen Seenotrettungsprogramms bereits überlastet, und die geringere Präsenz von Rettungsschiffen wird unweigerlich dazu führen, dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken.

Ein weiteres, durch das Dekret aufgeworfenes Problem ist die Verpflichtung, an Bord von Rettungsschiffen Daten von Überlebenden zu sammeln, die beabsichtigen internationalen Schutz zu beantragen und diese Informationen mit den Behörden zu teilen. Es ist die Pflicht von Staaten, Asylgesuche zu registrieren und entsprechende Verfahren einzuleiten, ein privates Schiff ist dafür nicht der geeignete Ort. Wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kürzlich klarstellte, sollten Asylanträge nur an Land bearbeitet werden, nachdem die Geflüchteten an einem sicheren Ort an Land gehen konnten und ihre unmittelbaren Bedürfnisse erfüllt wurden.1

Das italienische Dekret verstößt gegen internationales Seerecht, Menschenrechte und europäisches Recht und sollte daher eine starke Reaktion der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, der europäischen Mitgliedstaaten und EU-Institutionen hervorrufen.

Wir, zivile Organisationen, die Seenotrettungseinsätze im zentralen Mittelmeer durchführen und unterstützen, fordern die italienische Regierung auf, ihr neu erlassenes Dekret unverzüglich zurückzuziehen. Wir rufen auch alle Abgeordneten des italienischen Parlaments auf, bei der Abstimmung gegen das Dekret zu stimmen und damit zu verhindern, dass es in ein Gesetz umgewandelt wird.

Wir brauchen keine neue, politisch motivierte Verordnung, die Such- und Rettungsaktivitäten behindert. Stattdessen fordern wir, dass EU-Mitgliedstaaten sich endlich an den bestehenden völkerrechtlichen Rahmen halten und zivilen Seenotrettungsorganisationen ermöglichen, ihre Einsätze ohne staatliche Behinderung durchführen zu können.

 

Unterzeichnende Such- und Rettungsorganisationen:
Emergency
Iuventa Crew
Mare Liberum
Médecins Sans Frontières/Doctors Without Borders (MSF)
MEDITERRANEA Saving Humans
MISSION LIFELINE
Open Arms
r42-sailtraining
RESQSHIP
ResQ – People Saving People
Salvamento Marítimo Humanitario
SARAH-SEENOTRETTUNG
Sea Punks
Sea-Eye
Sea-Watch
SOS Humanity
United4Rescue
Watch the Med – Alarm Phone

Co-unterzeichnende Organisationen:
Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.
Human Rights at Sea

Für Rückfragen, Stellungnahmen oder Interviews wenden Sie sich bitte an
Pressesprecherin Petra Krischok, presse@sos-humanity.org, +49 (0)176 – 552 506 54

Bildmaterial:
Unter diesem Link finden Sie für redaktionelle Zwecke Fotos und Videos der Rettungseinsätze 2022 der Humanity 1. Bitte nennen Sie Name Fotograf*in / SOS Humanity.

 

1 UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Legal considerations on the roles and responsibilities of States in relation to rescue at sea, non-refoulement, and access to asylum, 1. Dezember 2022, verfügbar unter: https://www.refworld.org/docid/6389bfc84.html.

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