Europäische Kommission: Pflicht verfehlt
Berlin, 19. Juli 2024 – Im Rahmen des Beschwerdemechanismus der Europäischen Union (1) sei die Europäische Kommission (EK) ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, innerhalb von 12 Monaten ein italienisches Gesetz zu prüfen, das Such- und Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer behindert, kritisieren führende Nichtregierungsorganisationen, darunter zwei Seenotrettungsorganisationen.
Im Juli 2023 reichten die fünf Organisationen – die Vereinigung für juristische Studien zu Immigration (ASGI), EMERGENCY, Ärzte ohne Grenzen (MSF), Oxfam Italien und SOS Humanity – fünf separate Beschwerden über das italienische Gesetzesdekret 1/2023 (2) und die Praxis der italienischen Behörden ein, systematisch weit entfernte Häfen für die Ausschiffung von aus Seenot geretteten Menschen zuzuweisen.
Die Nichtregierungsorganisationen argumentierten, dass das Gesetzesdekret und die Praxis entfernte Häfen zuzuweisen, nicht mit den Verpflichtungen der EU-Mitgliedsstaaten nach europäischem und internationalem Seerecht und den Menschenrechten im Einklang stehen und dass sie eine systematische Behinderung der zivilen Such- und Rettungsaktivitäten im Mittelmeer darstellen. “Als Hüterin der Verträge ist die Europäische Kommission verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten das EU-Recht und dessen einheitliche Anwendung respektieren“, sagt Marie Michel, politische Expertin bei SOS Humanity.
Die EU-Beschwerdemechanismen sehen vor, dass die Europäische Kommission innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Beschwerde eine vorläufige Bewertung vornimmt und innerhalb eines Jahres entscheidet, ob sie ein förmliches Verfahren wegen eines Verstoßes gegen EU-Recht durch einen Mitgliedstaat einleitet. „Nach einem Jahr des Wartens hat die Kommission mitgeteilt, dass sie mehr Zeit braucht, um unsere Beschwerden zu prüfen“, sagt Juan Matias Gil, Leiter der Seenotrettung bei Ärzte ohne Grenzen. „Indem die Kommission die Prüfung hinauszögert, duldet sie die systematische Behinderung der Rettung von Menschenleben im Mittelmeer. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, denn die Zahl der Menschen, die auf See sterben, steigt.
Das italienische Gesetzesdekret 1/2023 besagt, dass humanitäre Rettungsschiffe nach einer Rettung unverzüglich den ihnen zugewiesenen Hafen ansteuern und keine weiteren Rettungen durchführen sollten. Dies bedeutet, dass die Schiffe keine Hilfe mehr für andere Boote in Not leisten sollten, obwohl sie nach internationalem Recht verpflichtet sind, Menschen in Seenot zu helfen, und obwohl es im zentralen Mittelmeer einen enormen Mangel an Such- und Rettungskapazitäten gibt – eine Route, auf der allein in diesem Jahr bereits 893 Menschen als vermisst gelten. (3)
Im Rahmen der Praxis der weit entfernten Häfen – die in keiner italienischen Rechtsvorschrift festgeschrieben, aber seit Dezember 2022 gängig ist – werden humanitären Such- und Rettungsschiffen systematisch Häfen in Nord- statt in Süditalien zugewiesen. Dies wirkt sich sowohl auf die geretteten Menschen aus, deren Zustand ohnehin schon äußerst prekär ist, als auch auf die Rettungsschiffe, deren Fahrtzeiten sich dadurch erheblich verlängern. „Die Praxis der weit entfernten Häfen ist ein Verstoß gegen internationales Recht“, sagt Francesca Bocchini, politische Referentin bei EMERGENCY. „Sie verschlimmert das Leiden der geretteten Menschen, indem sie ihren Zugang zu lebenswichtiger Versorgung verzögert; sie zieht finanzielle Ressourcen von lebensrettenden Maßnahmen ab und hält die Rettungsschiffe aus den Gebieten fern, in denen sie am dringendsten benötigt werden.“
Nach Berechnungen von SOS Humanity haben humanitäre Rettungsschiffe seit 2023 durch den zusätzlichen Navigationsaufwand, der erforderlich ist, um entfernte Häfen zu erreichen, insgesamt 520 Tage verloren, die sie für die Rettung von Menschen in Seenot hätten aufwenden können.
Das Gesetzesdekret 1/2023 wurde außerdem in 22 Fällen dazu verwendet, humanitäre Rettungsschiffe in italienischen Häfen festzusetzen, bis heute für insgesamt 480 Tage. In einigen dieser Fälle wurden Festsetzungen damit begründet, dass die humanitären Rettungsschiffe die Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache bei Rettungen in internationalen Gewässern nicht befolgt hätten. Einige dieser Festsetzungen wurden jedoch von italienischen Gerichten für rechtswidrig erklärt, zuletzt vom Zivilgericht in Crotone. (4) “Die Anwendung dieses Gesetzes verstößt gegen die Verpflichtungen aus den internationalen Seerechtskonventionen sowie gegen die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit von Organisationen der Zivilgesellschaft, die auch in den EU-Verträgen verankert sind“, so Lucia Gennari von ASGI. „Dies sind Verstöße, die von den europäischen Institutionen nicht ignoriert werden können.“
„Wir fordern die Europäische Kommission auf, unsere Beschwerden zu bearbeiten und unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um gegen die rechtliche und administrative Behinderung der zivilen Such- und Rettungsaktivitäten durch die italienischen Behörden vorzugehen“, sagt Marie Michel. „Europa kann nicht schweigen, während seine führenden Politiker unverantwortliche Gesetze schaffen, die das Leben von Menschen auf See weiter gefährden!“
Für Nachfragen und Interviews wenden Sie sich bitte an:
SOS Humanity: Wasil Schauseil: press@sos-humanity.org, +49 157 850 608 14
MSF: Mohamad Cheblak: mediterranean-fcc@oca.msf.org,+31 6 23895332
EMERGENCY: Claudia Agrestino: claudia.agrestino@emergency.it,+39 3346186239