Jahresrückblick 2023
Das Jahr geht zu Ende. Es ist kalt geworden – und das nicht nur auf dem Mittelmeer, sondern auch in unserer Gesellschaft. 2023 war ein weiteres Jahr, in dem sich die humanitäre Notlage für über das Mittelmeer Flüchtende nicht verbessert hat. Im Gegenteil: Für 2.571 Menschen, die 2023 im Mittelmeer ertranken, kam jede Hilfe zu spät (IOM, Stand: 20.12.2023). Unsere Crew dokumentierte zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und erlebte die unmittelbaren Auswirkungen der europäischen Abschottungspolitik hautnah. In einem Jahresrückblick lassen wir die wichtigsten Ereignisse des Jahres Revue passieren:
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Italiens Abschottungspolitik
Das vergangene Jahr unter der ultrarechten Regierung Italiens hat die zivile Seenotrettung flüchtender Menschen abermals erschwert. Im Januar erließ Italien ein Dekret, das später in ein Gesetz umgewandelt wurde und das zivilen Rettungsschiffen vorschreibt, sofort den nach der ersten Rettung zugewiesenen Hafen anzufahren, auch wenn sich weitere Seenotfälle in der Umgebung befinden. SOS Humanity und andere Organisationen kritisieren dieses neue Gesetz als klaren Verstoß gegen internationales Seerecht, europäisches Recht und die Menschenrechte. Hinzukommt, dass die italienischen Behörden zivilen Rettungsschiffen fast ausschließlich weit entfernte Häfen zuweisen, um Rettungsschiffe lange aus dem Einsatzgebiet fernzuhalten. Gegen die systematische Zuweisung entfernter Häfen haben wir Klage eingereicht, weil die unnötig lange Zeit an Deck die Rechte der Schutzsuchenden verletzt. Zusätzlich haben mehrere NGOs gemeinsam eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingebracht, weil diese nichts gegen das neue italienische Gesetz und die Praxis der weit entfernten Häfen unternimmt.
Petition „SOS auf dem Mittelmeer“
Gleichzeitig vernachlässigen auch die deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission ihre rechtlichen und humanitären Verpflichtungen und verraten ihre eigenen Versprechen. Denn auch für das kommende Jahr ist nach wie vor kein staatliches europäisches Seenotrettungsprogramm geplant. Und das, obwohl die Bundesregierung schon im Herbst 2021 im Koalitionsvertrag versprach, eine „europäisch getragene und staatlich koordinierte Seenotrettung im Mittelmeer anzustreben“. Daran konnten auch die 62.589 gesammelten Unterschriften unserer Petition „SOS auf dem Mittelmeer“ nichts ändern, die SOS Humanity bei einer Protestaktion im Juni überreichte. Somit bleibt die zivile Seenotrettungsflotte auch zukünftig allein und entscheidend für die Rettung von Menschen in der libyschen Such- und Rettungszone im südlichen Mittelmeer.
SOS – rette unser Schiff!
Im August sahen wir uns mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert: Aufgrund finanzieller Engpässe standen wir kurz davor, den nächsten Einsatz unseres Rettungsschiffes nicht mehr durchführen zu können. Doch dank der großzügigen Spenden vieler, die auf unseren Notruf „SOS – Rette unser Schiff!“ reagierten, konnten wir unsere lebensrettende Arbeit auf dem Mittelmeer fortsetzen. Ohne die Unterstützung von tausenden Privatspender*innen, institutionellen Geber*innen wie SOS-Kinderdörfer oder Islamic Relief sowie einer schon 2022 vom Bundestag beschlossenen Zuwendung durch das Auswärtige Amt wäre das nicht möglich gewesen.
Open-Ship-Event in Siracusa
Im September war unser Rettungsschiff im Hafen von Siracusa auf Sizilien erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich. Crewmitglieder führten durch eine Fotoausstellung an Bord und gaben Einblicke in ihre Arbeit auf See. Außerdem informierten unsere Anwält*innen über die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung. Vier Wochen lang konnten sich Besucher*innen, Journalist*innen, Spender*innen informieren und mit dem Team von SOS Humanity austauschen.
BMI plant Änderung des Aufenthaltsgesetzes
Im November öffnet eine geplante Änderung des Aufenthaltsgesetzes durch das Bundesinnenministerium (BMI) der Kriminalisierung von Seenotretter*innen, humanitären Helfer*innen sowie Menschen auf der Flucht in Deutschland Tür und Tor. Ihnen allen drohen bis zu 10 Jahre Haft. Anfang des neuen Jahres soll im Bundestag darüber entschieden werden. Hilf uns, das zu verhindern!
Festsetzung der Humanity 1
Während Politiker*innen über weitere Einschränkungen ziviler Seenotrettung diskutieren, bleibt die Humanity 1 weiterhin im Einsatz. In 6 Einsätzen und 24 Rettungen konnte unsere Crew 1.101 Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer retten. Sie hält sich dabei immer an geltendes Recht. Trotzdem endete unser letzter Rettungseinsatz für 2023 im Dezember in einer 20-tägigen Festsetzung der Humanity 1 im Hafen von Crotone in Kalabrien. Grundlage hierfür waren falsche Anschuldigungen seitens der Behörden. Diese beschuldigten die Crew der Humanity 1, sich bei der Rettungsaktion am 30. November, bei der 46 Menschen aus dem Wasser gerettet wurden und ein Pull-back der libyschen Küstenwache bezeugt wurde, Anweisungen widersetzt zu haben. Mittels Tonbandaufnahmen der Funkkommunikation, Positionsdaten des Schiffs und Foto- und Videomaterial können wir diese Anschuldigungen widerlegen. Seit dem 23. Dezember 2023 ist die Humanity 1 wieder frei und bereit, im Januar 2024 in ihren nächsten Rettungseinsatz zu starten!
Tatort Mittelmeer
Wir haben das Jahr mit zwei erfolgreichen Veranstaltungen beendet: Am 03.12.2023 haben im fast ausverkauften Thalia Theater in Hamburg zehn Schauspieler*innen, unter anderem als TV-Kommissar*innen bekannt, tief bewegende Berichte von flüchtenden Menschen sowie von Seenotretter*innen von SOS Humanity vorgetragen. Unter dem Titel „Tatort Mittelmeer“ lenkte die Lesung die Aufmerksamkeit des Publikums auf die täglichen Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer, wo alle drei Stunden ein Mensch auf der Flucht ertrinkt. Die Prominenten verschafften den Stimmen flüchtender Menschen auf dem Mittelmeer Gehör, die von Politik und Gesellschaft viel zu oft überhört werden. Nach der Lesung sammelten die Fernsehkomissar*innen eigenständig Spenden – und das mit großem Erfolg!
SOS SESSIONS
Mit der Benefiz-Musikveranstaltung SOS SESSIONS, die am 13.12.2023 im Huxleys – Neue Welt in Berlin stattfand, machten wir noch einmal ganz anders auf die Gefahren aufmerksam, denen sich Menschen bei der Flucht übers Mittelmeer aussetzen müssen. Zwischen den Auftritten von Deichkind, Mine, Josi Miller, Ätna und Megaloh sprachen Till Rummenhohl, Geschäftsführer von SOS Humanity, und Mirka Schäfer, politische Referentin von SOS Humanity, mit Moderatorin Hadnet Tesfai über die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer und dem Widerspruch zwischen europäischer Abschottungspolitik und geltenden Menschenrechten. Während die Künstler*innen auf der Bühne Vollgas gaben, spendeten die Zuschauer*innen auch des Livestreams fleißig, um die lebensrettenden Einsätze der Humanity 1 auch im nächsten Jahr finanzieren zu können.
Wir blicken hoffnungsvoll ins neue Jahr und wünschen uns, dass zivile Seenotrettung 2024 nicht länger behindert wird. Es müssen politische Grundlagen für legale und sichere Fluchtwege geschaffen werden, damit sich kein Mensch auf die gefährliche Flucht übers Mittelmeer begeben muss. Doch auch wenn sich die politische Lage weiter zuspitzt, bleiben wir mit der Humanity 1 im Einsatz und retten Menschenleben. Lass uns 2024 gemeinsam und entschlossen dem Gegenwind mit Menschlichkeit begegnen.