Sieben Jahre bei SOS Humanity: Interview mit Crewing-Referentin Christina

Crew von SOS Humanity vor dem Rettungsschiff Humanity 1 mit blauen T-Shirts.
Danilo Campailla / SOS Humanity

Im August 2023 besteht die Crew an Bord der Humanity 1 zum ersten Mal überwiegend aus Frauen. Aus diesem Anlass haben wir mit Christina, einer unserer Crewing-Referentinnen gesprochen. Sie ist seit sieben Jahren Teil von SOS Humanity und unter anderem für die Bewerbungen der Freiwilligen an Bord zuständig. Im Interview spricht sie über ihren Weg zur Seenotrettung, über die Bedeutung einer divers zusammengestellten Crew und darüber, wie die Arbeit bei SOS Humanity ihr Leben verändert hat.

Warum hast du beschlossen, dich für die zivile Seenotrettung einzusetzen und Teil von SOS Humanity zu werden?

Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen und habe dann ab Mitte der 90er-Jahre in Italien gelebt. Nach meinem Studium der Filmwissenschaften war ich viele Jahre freiberuflich tätig. Die Themen Flucht und Migration waren für mich sowohl durch meine Familiengeschichte als auch politisch ein wichtiges Thema. Im Februar 2016 war ich auf der italienischen Insel Lampedusa und habe zum Thema „Flucht heute – Die Mittelmeerroute“ recherchiert. Eine lokale Gruppe Freiwilliger lud mich dort ein, mit an den Hafen zu kommen.

Diese Situation hat mich sehr berührt. Stell dir vor: Samstagnacht, Vollmond über dem Hafen, die Boote der Küstenwache bringen nach und nach diese meist jungen Menschen an Land. Sie stehen in einer Reihe mit den schillernden Rettungsdecken übergeworfen, stundenlang wartend. Ihnen gegenüber stehen Männer der Polizei, Carabinieri, Finanzgarde, alle mit verschränkten Armen und zusammengezogenem Gesicht, also sehr konfrontativ. Und dazwischen die Freiwilligen, die die Ankommenden mit heißem Tee, Biskuits, Spielzeugen für die Kinder und einem Lächeln begrüßen.

Ausschiffung nachts: Geretteter mit orangem Rucksack geht von der Humanity 1 an Land.
Max Cavallari / SOS Humanity

Ich war dann noch mehrere Male bei Anlandungen am Hafen dabei. Eines Abends legte die Aquarius (Anmerkung: erstes Schiff von SOS Humanity, ehemals SOS Mediterranee Deutschland) an. Ich führte Gespräche mit Menschen, die zur ersten Generation unserer Organisation gehörten. Und als ich die Aquarius dann zu ihrem ersten Rettungseinsatz auslaufen sah, dachte ich: „Da will ich rauf. Das will ich machen.“

Und dann hast du dich beworben?

Genau. Ich schrieb eine kurze E-Mail, in der ich erklärte, dass ich Italienisch spreche sowie Erste Hilfe, putzen und kochen kann, was auch immer notwendig sei. Im Juni 2016 ging ich an Bord. Ich war dann im Laufe eines Jahres insgesamt dreimal im Rettungsteam auf der Aquarius. Am Ende meines ersten Einsatzes haben wir 22 Tote aus einem Schlauchboot geborgen und an Land gebracht.

Das war hart. Das hat mein Leben verändert.

Seitdem bin ich Teil von SOS Humanity; erst ehrenamtlich, mittlerweile hauptberuflich.

Mittlerweile bist du als Crewing-Referentin mitverantwortlich für die Zusammenstellung der Besatzung. Dein Team schwärmt von deinem guten „Bauchgefühl“. Auf was legst du besonderen Wert bei der Auswahl der Crewmitglieder?

Wir legen viel Wert auf berufliche und charakterliche Eignung, aber auch auf Motivation und eine diverse Crew. Wir wollen das abbilden, was unser Name besagt: Humanity, was Menschlichkeit und gleichzeitig Menschheit bedeutet. Wir wollen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedlicher Herkunft an Bord haben – aber auch möglichst ein Gleichgewicht von Frauen und Männern. Außerdem gibt es keine Toleranz gegenüber Rassismus, Sexismus, Homo- oder Transphobie, das ist ganz klar.

Drei weibliche Crewmitglieder von SOS Humanity auf einem RHIB. Im Vordergrund die Köpfe mit gelben Helmen von anderen Personen.
Danilo Campailla / SOS Humanity

Bei der aktuellen Rotation besteht die Crew aus mehr Frauen als Männern. Ist das zum ersten Mal so?

Ja, das allererste Mal. Das hängt auch damit zusammen, dass die Seefahrt ein traditionell männliches Berufsfeld ist. „A woman on board brings bad luck“ war die Einstellung vieler Seemänner. Inzwischen bewerben sich bei uns auch viele Frauen. Auch weil wir nicht nur die nautische Crew haben, die das Schiff betreibt, sondern auch die operative Crew für die Rettung und den Schutz der Überlebenden. Für diese bin ich zuständig. Dazu gehören die Besatzung der RHIBs (Schnellboote), das Care-Team und das Kommunikationsteam. In diesen Teams brauchen wir zum Beispiel Rettungssanitäter*innen, Ärzt*innen, Hebammen, Dolmetscher*innen, Fotograf*innen oder Psycholog*innen. Diese Menschen kommen also nicht aus der Seefahrt, sondern arbeiten oder studieren und unterstützen uns ehrenamtlich. Es kommen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und aus verschiedenen Generationen zusammen.

Birgt das auch Konfliktpotenzial?

Natürlich, doch dem versuchen wir entgegenzuwirken, indem wir auf jedem Einsatzzyklus unsere Grundsätze und Werte vertreten. Wir haben eine FLINTA*-Gruppe an Bord, die FLINTA*-Personen zusätzlich unterstützt. Das wird gut angenommen und als sehr wichtig empfunden. Außerdem gibt es zwei Ansprechpersonen, sogenannte “Focal Points”, an Bord. Diese sind nicht von SOS Humanity angestellt, sondern Teil der ehrenamtlichen Crew an Bord und Ansprechpartner*innen für Vorfälle sexistischer oder rassistischer Art oder anderes unangemessenes Verhalten.

Weibliche Crewmitglieder von hinten an Bord der Humanity 1 mit Blick auf Italien.
Max Hirzel / SOS Humanity

Wie ist es für dich so lange in der zivilen Seenotrettung tätig zu sein?

Es sind jetzt sieben Jahre, dass ich das mache. Für mich ist es ein Geschenk, dass ich mit sehr vielen jungen, motivierten, kompetenten Menschen arbeiten kann. Dieses Projekt, unser Rettungsschiff, wird von so vielen Händen getragen – nicht nur von der Crew an Bord, sondern auch vom Team an Land und allen Unterstützer*innen, Spender*innen und Freiwilligengruppen. So viele Menschen sind hier mit ihrer Energie, ihrem Geld und ihrer Lebenszeit beteiligt. Deshalb passt dieser Name, SOS Humanity, einfach so gut. Weil wir zusammen als Menschheit mit Menschlichkeit diese Arbeit machen, solange sie notwendig ist.

Aber natürlich ist gerade die Arbeit an Bord sehr, sehr anstrengend physisch und psychisch. Mitunter schläft man tagelang kaum und erfährt hohe Belastungen, hört schreckliche Geschichten, sieht Narben und Wunden.

Geretteter mit rotem T-Shirt schaut von Bord der Humanity 1 auf das Mittelmeer.
Maria Giulia Trombini / SOS Humanity

Möchtest du eine davon teilen?

Eine Begegnung – das war 2017 auf der Aquarius – werde ich nie vergessen. Ein junger Mann mit einer dicken Narbe am Unterarm erzählte mir, dass er in Libyen gefoltert worden war, dass sie ihm den Arm mit einer Glasscherbe aufgeschnitten hatten, dass die Wunde nie ärztlich versorgt worden war. Er hat mir seinen Namen gesagt, und ich habe ihn dann später auf Facebook gefunden und seinen Werdegang verfolgt. Er ist in Italien angekommen, hat dann eine Arbeit gefunden, hat vor zwei Jahren geheiratet und vor einem Jahr eine Tochter bekommen. Es ist selten, dass man so etwas mitverfolgen kann, aber es ist eine sehr schöne Bestätigung, auch unserer Arbeit. Selbst wenn wir wissen, dass viele nicht ankommen, keinen Platz finden, nicht wirklich ein neues Leben beginnen können in Europa.

Fällt es dir schwer, zu akzeptieren, dass du darauf keinen Einfluss mehr hast?

Ja, das macht natürlich etwas mit uns allen. Aber in erster Linie ist es für mich wichtig, dass die Menschen am Leben sind, dass sie gerettet worden sind, dass sie nicht ertrunken sind, dass sie nicht vermisst werden. Und dann müssen wir darauf vertrauen, dass es andere Menschen, andere Organisationen gibt, die sich ihrer annehmen.

Was wünscht du dir für diese Menschen?

Ich wünsche mir mehr Sensibilität und Respekt gegenüber diesen Menschen. Das sind Menschen mit einer Geschichte, mit einem Namen, mit einer Familie, mit Träumen, Erfahrungen, Traumata. Ich wünsche mir, dass sie als solche wahrgenommen werden, nicht als Zahlen. Und dass ihre Rechte respektiert werden. Und zwar die aller Flüchtenden, egal ob sie aus der Ukraine, aus Libyen oder Tunesien kommen. Denn am Ende geht es um grundlegende Menschenrechte und darum, dass wir alle gleich sind. 

Und was forderst du von der Politik?

Dass man dementsprechend handelt und endlich von europäischer Seite aktiv wird.

Man weiß, was in Libyen passiert. Man weiß, was in Tunesien passiert. Und trotzdem geschieht nichts und man spricht stattdessen über Mythen wie den Pull-Faktor. Dabei ist dieser schon so oft wissenschaftlich widerlegt worden. Es ist bewiesen, dass NGO-Schiffe für die Anzahl der Menschen, die übers Mittelmeer fliehen, nicht verantwortlich sind. Und trotzdem wird das immer wieder auf den Tisch geholt, anstatt zu akzeptieren, dass es hier um Menschenleben geht. Dass das, was wir machen, nichts Besonderes ist, sondern eine normale, humane Reaktion. Dass es nicht sein kann, dass man Menschen einfach ertrinken lässt. Das darf nicht sein und damit kann und will ich mich nicht abfinden.

 

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