„Ich fordere ein Ende dieser staatlich produzierten Gewalt!“ Interview der Schutzbeauftragten Olive

Portrait der Schutzbeauftragten an Bord der Humanity 1 am Deck
Max Hirzel / SOS Humanity

Olive ist Schutzbeauftragte an Bord der Humanity 1. Als solche sind ihre Hauptaufgaben auf dem Schiff die Registrierung der Geretteten, die Verwaltung unserer Überweisungsprozesse an Land und der Informationsaustausch mit den geretteten Menschen, um ihnen den Start in einem fremden Land zu erleichtern. Wir sprachen über ihre Erfahrungen als Frau in einem männlich dominierten Arbeitsumfeld und darüber, warum die EU ihrer Meinung nach nicht einfach nur tatenlos zusieht, sondern maßgeblich zum Sterben auf dem Mittelmeer beiträgt.

Was macht die Arbeit der Schutzbeauftragten an Bord aus?

Die Idee ist, die Kluft zwischen dem Leben an Bord und dem neuen Leben an Land für die Geretteten so gering wie möglich zu halten. Ich liebe den Teil des Informationsaustauschs zusammen mit den Überlebenden in den verschiedenen übersetzten Sitzungen zusammen mit unserem Cultural Mediator. Ich versuche, einen möglichst guten Überblick über den Ausschiffungsprozess zu geben und spreche dann über das Asylverfahren in Italien und die einzelnen Schritte, die dazu gehören. Ich stelle auch sicher, dass die Menschen ihre Rechte in Europa kennen – etwas so Einfaches wie das Wissen, dass man das Recht auf eine Übersetzung hat, kann einen großen Unterschied machen.

Frau mit blau-gelbem SOS Humanity T-Shirt mit dem Rücken zum Betrachtenden schreibt auf eine weiße Tafel mit bunten Stiften Informationen über das Asylsystem an Bord der Humanity 1.
Max Hirzel / SOS Humanity

Welche Möglichkeiten, die Menschen bei ihrem Start in Europa zu unterstützen, habt ihr außerdem?

Weitere Versuche, eine Brücke zwischen dem Schiff und dem Festland zu schlagen, sind unsere Überweisungsverfahren. Sie umfassen die Familienzusammenführung und die Überweisung aus humanitären Gründen. Mit der Unterstützung unserer Partnerorganisationen an Land, einschließlich des UNHCR und des Roten Kreuzes, sind wir in der Lage, die Menschen mit den Diensten zu verbinden, die sie benötigen und die ihnen rechtlich zustehen. Dies ist besonders wichtig, wenn während des Aufenthalts der Geretteten an Bord Gefährdungen festgestellt werden. Dazu zählen etwa sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Menschenhandel, Entführung, Gewalterfahrungen in der jüngsten Vergangenheit und medizinische Fälle. In all diesen Fällen haben die Menschen das Recht auf spezielle Betreuung und die Möglichkeit, während ihres Asylverfahrens zusätzliche Unterstützung zu erhalten.

Von großer Bedeutung für die Geretteten ist natürlich auch die Familienzusammenführung. Unsere größte Untergruppe an Bord sind in der Regel unbegleitete Minderjährige. Hier ist die Familienzusammenführung besonders wichtig, weil sie sich auf den Verlauf ihres Asylverfahrens auswirkt. Die allererste Phase dieses Prozesses können wir bereits an Bord mit einer Überweisung an unseren Partner an Land einleiten.

Was hat dich motiviert, dich für die zivile Seenotrettung einzusetzen?

Bevor ich an Bord kam, hatte ich die Arbeit der zivilen Flotte jahrelang verfolgt und war immer wieder erstaunt über die Dreistigkeit Europas, welches sich nicht nur weigert, Such- und Rettungsaktionen auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt durchzuführen, sondern auch aktiv Such- und Rettungsschiffe kriminalisiert, um deren Arbeit zu behindern. Es ist eine unheimlich düstere Situation. Zu dieser Zeit arbeitete ich auf privaten Booten im Mittelmeer, was seine eigenen Surrealitäten mit sich brachte:

Zu dieser Zeit arbeitete ich auf privaten Booten im Mittelmeer, was seine eigenen Surrealitäten mit sich brachte: Manchmal lagen wir neben Schiffen von Seenotrettungsorganisationen vor Anker. Auf demselben Gewässer zu segeln und dabei so unterschiedliche Erfahrungen zu machen, ist erschütternd.

Es ist eine brutale Verdeutlichung der Ungleichheit in der heutigen Welt und der fatalen Verankerung von Rassismus in der europäischen Politik und des europäischen Denkens. Sich über eines von Europa selbst geschaffenes Massengrab zu bewegen, macht unsere Hypermobilität und Hyperprivilegien sichtbar.

Der Schiffbruch vor Pylos, Griechenland, bei dem weit über 500 Menschen ums Leben gekommen sein könnten, ist nur eine von vielen dunklen Erinnerungen daran, dass wir jetzt sichere Fluchtwege brauchen.

Letztes Jahr wurde mir für die zweite Rotation der Humanity 1 die Stelle des Schutzbeauftragten an Bord angeboten. Ich befinde mich nun in meiner dritten Such-und-Rettungs-Rotation in dieser Funktion an Bord und habe das Schiff und andere Mitglieder der zivilen Flotte mit Logistik von der Werft in Burriana aus unterstützt.

Wie ist es, als Frau in einem hauptsächlich männerdominierten Berufsfeld wie der Seefahrt zu arbeiten?

Für mich ist es faszinierend, Teil einer Crew zu sein, die so anders ist als die Besatzungen, denen ich bisher angehörte. Ich war es gewohnt, nur wenige Frauen an Bord zu sehen, und dass diese wenigen nur ganz bestimmte Aufgaben übernehmen. Wenn eine Frau auf der Brücke etwas anderes tat als putzen, war es, grenzte das an ein Wunder. Auf der Humanity 1 besteht die Crew oft fast zur Hälfte aus Frauen und wir sind in allen Bereichen vertreten – auf der Brücke, im Maschinenraum, an Deck, im Such- und Rettungsteam und in der Pflege. Es ist sehr bestärkend, Teil davon zu sein.

Olive bei der Erklärung von Informationen zum Asylverfahren in Italien für die Geretteten an Bord der Humanity 1.
Max Hirzel / SOS Humanity

Was bedeutet Menschlichkeit für dich?

Einfühlungsvermögen. Solidarität. An einem gemeinsamen Tisch sitzen, Mauern und Grenzen einreißen.

Hast du politische Forderungen oder Wünsche, die du zur Situation auf dem Mittelmeer äußern möchtest?

Für mich ist es unmöglich, diese Arbeit ohne politische Forderungen zu machen. Wenn wir über Seenotrettung und die Situation im Mittelmeer sprechen, hört man häufig: „Europa tut nichts“ oder „Europa sieht zu und lässt es geschehen“. Ich denke, es ist wirklich wichtig, mehr darüber zu sprechen – denn Europa tut etwas. Europa verfolgt aktiv eine rigorose, rechtsextreme Migrationspolitik. Es ist diese Politik, die Gewalt und Tod an den Grenzen und innerhalb der Staaten produziert. Ich fordere ein Ende dieser staatlich produzierten Gewalt!

Das Projekt „Missing Migrants“ dokumentiert über 56.900 tote oder vermisste Menschen seit 2014. Und die Zahlen, die wir haben, sind wahrscheinlich stark unterschätzt. Diese Todesfälle sind keine Selbstverständlichkeit. Es ist keine Tatsache, die wir hinnehmen müssen, dass viele Menschen sterben, nur weil sie das Mittelmeer überqueren. Wir haben nicht die unzähligen internationalen Seeverkehrsabkommen, damit das zugelassen wird.

Diese Todesfälle und andere Fälle von Gewalt, wie etwa die illegalen Push-Backs nach Libyen, geschehen, weil Europa eine sichere Überfahrt ablehnt. Sie geschehen, weil Europa seine Menschenrechtsverpflichtungen immer weiter auslagert und externalisiert. Sie geschehen, weil in Europa einige Leben mehr wert sind als andere.

Ich fordere sichere Fluchtwege und ein Ende der europäischen finanziellen und materiellen Unterstützung der illegalen Push-Backs durch die so genannte libysche Küstenwache. Europa muss die Menschenrechte an seinen Grenzen, auf See und an Land, gewährleisten. Die jüngsten Verhandlungen über Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems mit der Einführung eines Screening-Verfahrens machen das Asylsystem der Mitgliedstaaten funktionsunfähig. Damit wird das individuelle Recht auf Asyl in Europa faktisch abgeschafft.

Ich fordere, dass Europa die Menschenrechte, die es unterzeichnet hat, respektiert und die Aufnahme und den Schutz aller Menschen auf der Flucht gewährleistet.

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