Tatort Mittelmeer: Wie die Crew der Humanity 1 eine illegale Rückführung nach Libyen bezeugt

Zeigt eine männliche Person von hinten, die vom Schiff aus, das Meer mit einem Fernglas beobachtet
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Im Dezember rettet unsere Crew im zentralen Mittelmeer 261 Menschen aus Seenot – und dokumentiert eine gewaltsame Rückführung Flüchtender durch die sogenannte libysche Küstenwache. Eine Seltenheit, denn oft finden diese illegalen Manöver ohne Augenzeugen statt. Lukas war im Dezember als Kommunikationsbeauftragter an Bord der Humanity 1. Hier schildert er den Einsatz und beschreibt das rücksichtslose und lebensgefährliche Vorgehen der Libyer.

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist am Montag, 20.02.23, bei Focus Online erschienen.

„Es ist 7:53 Uhr an diesem Dienstagmorgen im Dezember, als die sogenannte libysche Küstenwache ihr Abfangmanöver startet. Patrouillenschiff 656 und ein kleineres Boot der libyschen Stabilization Support Authority (SSA), einer lokalen Miliz, nähern sich einem grünen Schlauchboot in Seenot. An Bord sind etwa 50 Menschen, die aus Libyen geflohen sind. Die Männer auf dem Patrouillenboot nehmen das Schlauchboot in die Zange, fahren gefährlich nah heran und erzeugen dadurch Wellen, die weiter zur Instabilität des überbesetzten das Bootes beitragen. Ich werde Zeuge einer rechtswidrigen Rückführung, der auch als Pull-back bezeichnet wird.

Die Humanity 1, das Schiff der deutschen Such- und Rettungsorganisation SOS Humanity, auf dem ich die Kommunikation koordiniere, kreuzt an diesem Morgen im zentralen Mittelmeer, etwa 50 Kilometer vor der libyschen Küste. Aus der Ferne, aber in Sichtweite, beobachten wir das gesamte Manöver der Libyer. Doch wir können den verzweifelten Menschen nicht helfen, denn das grüne Schlauchboot, das in diesen Minuten vor unseren Augen abgefangen wird, ist nicht der einzige Seenotfall an diesem Morgen.

Bereits bei Sonnenaufgang haben wir von der Brücke ein völlig überbesetztes Boot gesichtet. An Bord sind 103 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer. Auf engstem Raum quetschen sie sich auf ihr wackeliges, etwa zehn Meter langes Boot. Trotz der gefährlichen Situation trägt niemand eine Rettungsweste. Gerade haben wir mit der Rettung dieser Menschen begonnen, da erblicken wir von der Brücke einen weiteren Punkt am Horizont, eben jenes Boot mit den grünen Schläuchen. Die sogenannte libysche Küstenwache ist schneller: Noch bevor wir die erste Rettung abschließen können, erreicht das Patrouillenboot diesen Seenotfall.

Während wir retten, brechen die Libyer geltendes Recht

Vom Topdeck aus, dem höchsten Punkt auf der Humanity 1, halte ich alles mit der Kamera fest. Mir bietet sich ein bizarres Bild. Blicke ich nach links, sehe ich die Rettung, die wir mit unseren Schnellbooten reibungslos durchführen. Nach und nach werden die Menschen an Bord der Humanity 1 gebracht. Ihre Erleichterung über ihre Rettung ist sichtbar, sie recken die Fäuste, jubeln und singen.

Blicke ich nach rechts, sehe ich mit Entsetzen, wie das Patrouillenboot die anderen Fliehenden abfängt. Sie werden an Bord gezwungen, anschließend nimmt das schnelle Schiff Kurs auf die libysche Küste.

Zurück bleibt das kaputte grüne Schlauchboot, im Inneren liegt neben (leeren?) Benzinkanistern auch Babykleidung. Leere macht sich in mir breit, ein Gefühl von Ohnmacht, das kaum zu beschreiben ist. Es zerreißt mich innerlich.

Wenige Minuten und ein großer Zufall entschieden darüber, wer gerettet und wer nach Libyen verschleppt wird. Beide Schlauchboote haben in der Nacht zuvor gemeinsam von Libyen abgelegt, wie wir später erfahren…

Auf dem Meer Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache und einzelne Menschen im Wasser
Lukas Kaldenhoff / SOS Humanity

Pull-backs durch die sogenannte libysche Küstenwache sind auf dem zentralen Mittelmeer an der Tagesordnung: Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 24.000 Menschen auf See abgefangen und gegen ihren Willen nach Libyen zurückgeschleppt. Und das, obwohl diese Praxis eindeutig gegen internationales Seerecht verstößt.

Denn eine Rettung muss stets mit der Ausschiffung der Geretteten in einem sicheren Hafen enden. Libyen – ein Land, in dem Flüchtende oft in menschenverachtende Lager gesteckt werden, in den ihnen Folter, Missbrauch und sexuelle Gewalt drohen – ist jedoch alles andere als sicher.

Wir haben geschrien, aber wir konnten nichts tun

Nicht nur ich und die Crew auf der Brücke müssen den illegalen Pull-back durch die Libyer mit ansehen. Auch die 152 Überlebenden auf der Humanity 1, die wir in zwei Einsätzen in den vorangegangenen 36 Stunden aus Seenot retten konnten und seitdem an Bord versorgen, werden Zeug*innen der Rückführung. Einer von ihnen ist der 30-jährige Darius (Name geändert) aus Kamerun. Als ich mich einen Tag später mit ihm an Deck unterhalte, ist er immer noch aufgewühlt: „Wir haben hier auf der Humanity 1 geschrien, aber wir konnten nichts tun. In diesem Moment haben wir unsere Brüder gesehen und wussten, dass sie wieder leiden werden.“

War die Stimmung in den Stunden nach der ersten Rettung noch fröhlich und ausgelassen, so sind unter den Menschen nun vor allem Wut und Trauer spürbar. Das Mitgefühl mit den nach Libyen zurückgebrachten Menschen ist groß. Einen Satz höre ich in den Folgetagen häufig: „Das hätten auch wir sein können.“

Darius fühlt ähnlich. Er ist mit seiner Familie auf der Flucht, war selbst lange in Libyen inhaftiert. Sein Sohn wurde dort im Lager geboren. „Wir wissen, was in Libyen passiert“, erzählt er unter Tränen und meint mit Blick auf die Zurückgebrachten.

Es wird schlimm für sie. Libyen ist unbeschreiblich. Dort werden Menschen gehandelt wie Brot.“

Fatime* überlebte einen Pull-back, ihre beiden Brüder ertranken

Die persönlichen Geschichten, die Gerettete an Bord der Humanity 1 mit mir und anderen Crewmitgliedern teilen, handeln nicht nur von den schlimmen Zuständen in Libyen selbst. Sie zeigen auch, mit welch brutaler Gewalt die sogenannte libysche Küstenwache bei ihren Pull-backs vorgeht. Für viele war der zuletzt gewagte Fluchtversuch über das Mittelmeer nicht der erste, oft wurden haben sie selbst bereits eine Rückführung erleben müssen. So auch die 20-jährige Fatime* von der Elfenbeinküste: „Als wir das erste Mal versuchten zu fliehen, kamen die Libyer. Sie nahmen unser Geld und schossen auf das Boot, sodass wir zu kentern begannen. Ich habe meine zwei Brüder im Meer verloren, sie sind beide ertrunken“, erzählt sie.

Auch der Pull-back der Flüchtenden auf dem grünen Schlauchboot, läuft unter massiver Anwendung von Gewalt ab. Während des gefährlichen Abfangmanövers der Libyer geraten sechs Menschen ins Wasser. Auf unsere Funksprüche reagiert das libysche Patrouillenschiff nicht, offensichtlich nehmen sie den Tod der über Bord Gegangenen billigend in Kauf. Mit Hilfe des zivilen Rettungsschiffes Louise Michel, das uns während unserer Rettung unterstützt, können wir zumindest diese sechs Menschen in Sicherheit bringen. Sie haben bessere Sicht auf das Geschehen und berichten, an Bord des Schlauchboots seien viele Frauen und Kinder gewesen. Nachdem die Libyer das Boot erreichten, hätten sie die Fliehenden zunächst ausgeraubt und dann gezielt auf Schwangere eingeschlagen, um die Menschen an Bord ihres Patrouillenschiffes zu zwingen.

EU fördert Gewalt und Rechtsbrüche auf dem Mittelmeer

Gegen 10:30 Uhr ist der ganze Spuk vorbei. Patrouillenschiff 656 ist Richtung Libyen abgedreht, an Bord der Humanity 1 kehrt nach einem für Gerettete und Crew aufreibenden Einsatz allmählich ein bisschen Ruhe ein. Fassungslos blicke ich auf einen Morgen zurück, der mir die alltägliche Brutalität auf dem zentralen Mittelmeer einmal mehr vor Augen geführt hat. Eine Brutalität, die es nicht geben müsste, die jedoch wissentlich hingenommen wird. Vor allem von einer EU, die die sogenannte libysche Küstenwache ausbildet und finanziert.

Erst Anfang Februar wurde bekannt, dass bei einem Treffen der italienischen und libyschen Führung fünf weitere Patrouillenboote an Libyen geliefert werden, finanziert von der EU. Zur Förderung des Grenzschutzes, wie ein EU-Kommissar bei der Übergabe erklärte. Was die EU damit tatsächlich fördert und mitfinanziert sind Gewalt und Rechtsbrüche auf hoher See, wie diesen, den wir an jenem Dienstag im Dezember bezeugen mussten.

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