Tegan, RHIB Support an Bord der Humanity 1

Porträt Tegan Louis-Puttick, Koordinatorin der Schnellboote der Humanity 1
Arez Ghaderi / SOS Humanity

Egal wie gut man vorbereitet ist, die Realität des abweisenden Europas ist schockierend – und sollte es auch sein.

Tegan Louis-Puttick, RHIB Support bei unserem ersten Einsatz, warnt davor, den Anblick von Menschen in einem überfüllten Boot auf dem Mittelmeer als normal anzusehen. In dem am Montag, den 14. November 2022, erschienen Beitrag auf Focus Online berichtet sie von ihren Erlebnissen an Bord der Humanity 1:

Der Anblick großer Gruppen von Menschen, die dicht gedrängt in einem kleinen Boot auf dem Mittelmeer treiben, ist in den letzten zehn Jahren in den Medien zur Normalität geworden. Dennoch ist und bleibt ein solcher Anblick etwas Schockierendes. Es ist ein klares Zeichen für das Versagen der europäischen Verantwortung, sichere Fluchtwege und einen verlässlichen Such- und Rettungsdienst auf dem Mittelmeer bereitzustellen.

Als Besatzungsmitglied der schnellen Beiboote der Humanity 1, dem Rettungsschiff der Such- und Rettungsorganisation SOS Humanity, gehörte ich zu dem Team, das bei den Rettungseinsätzen als erstes die in Seenot geratenen Boote sah und Kontakt zu den Menschen aufnahm. Oft wurden wir schon Stunden vor der Rettung durch Quellen wie Alarmphone, einem Hotline-Verein für Menschen in Not im zentralen Mittelmeer, auf einen Fall aufmerksam gemacht.

Zu diesem Zeitpunkt begannen die Vorbereitungen, um für die Rettung bereit zu sein. Ich stellte mich mental auf die Situation ein, die uns begegnen könnte, und ging vergangene Rettungserfahrungen, mögliche Szenarien und Einsatzverfahren im Kopf durch. Um ein winziges Boot auf dem weiten Meer ausfindig machen zu können, müssen wir mit Doppelwachen von der Brücke aus, dem Kontrollzentrum und höchsten Punkt des Schiffes, beginnen. Wir überprüfen die schnellen Beiboote auf Treibstoff und Vorräte. Gleichzeitig bereitet das Deck-Team sie vor, damit sie so schnell wie möglich zu Wasser gelassen werden können, sobald wir am Einsatzort eintreffen. Der Funkspruch „SAR-Team, SAR-Team, Briefing in fünf Minuten“ wurde zur Gewohnheit. SAR steht für search and rescue, also Such- und Rettungsteam. Wir besprachen den bevorstehenden Einsatz so detailliert wie möglich, auch wenn wir wussten, dass manche Dinge nicht vorhersehbar sind.

Tegan Louis-Puttick, Koordinatorin der Schnellboote der Humanity 1 mit Baby auf dem Arm
Arez Ghaderi / SOS Humanity

Doch trotz dieser Vorbereitungsphasen und der Erfahrungen, die ich in der Vergangenheit mit kleinen, seeuntüchtigen Booten voller Menschen in Seenot gemacht habe, ist der erste Anblick für mich immer noch schockierend. Das Gefühl des Entsetzens, der Empörung darüber, dass Menschen zu solch riskanten Reisen gezwungen werden, rührt von meiner Gewissheit her, dass diese Situation nicht als Normalität akzeptiert werden sollte und kann – auch wenn sie zunehmend als solche wahrgenommen wird. Sichere Wege, um in Europa Schutz zu suchen, sollten vorhanden sein. Die Bereitstellung von ausreichenden Seenotrettungsdiensten ist eine staatliche Verantwortung nach internationalem Seerecht, die es zu wahren gilt. Eine Situation, in der innerhalb eines Jahres mehr als 1.838 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrinken, ist zutiefst beunruhigend und kann nicht normal sein.

Daher war bei jeder der vier Rettungsaktionen, die wir während der ersten Rettungseinsätze von Humanity 1 durchführen konnten, die erste Annäherung an die Boote der eindrücklichste Moment – ein Moment völliger Klarheit, bevor das Adrenalin und die Tat die Oberhand gewannen. Bei der ersten Rettung, als unser Schnellboot eine kleine Welle überquerte, lag das in Not geratene Boot so tief im Wasser, dass ich es gerade noch sehen konnte, bevor es hinter einer weiteren Welle verschwand. Das dämmrige Licht des Sonnenuntergangs verstärkte das Gefühl der unheimlichen Ruhe; die Nacht brach an und wir mussten die Rettung im Dunkeln durchführen. Wir brachten die Personen einzeln auf die schnellen Beiboote und fuhren zurück zum Schiff, während die Wellen über unseren Bug spritzten. „Es ist okay, es ist okay, es macht uns jetzt nichts mehr aus“, lachte eine Person, als ich mich für die Dusche aus Salzwasser entschuldigte. „Jetzt sind wir in Sicherheit.“

Im Gegensatz dazu fand unsere letzte Rettung vor der dramatischen Kulisse von zwei riesigen Frachtschiffen statt, die das in Not geratene Boot mit ihrem Windschatten schützten – und das, obwohl dieses Schiff selbst ungewöhnlich groß war, ein altes, ramponiertes Sportboot mit 207 Personen an Bord. Mit achtundachtzig Kindern an Bord, viele von ihnen unter fünf Jahren, war die Rettung sehr anstrengend. Der hohe Freibord, also der Abstand zwischen dem Schiffsdeck und der Wasserlinie, bedeutete, dass präzises Manövrieren entscheidend war, und ich war jedes Mal erleichtert, wenn jemand sicher auf unser Schnellboot gebracht wurde.
Doch ungeachtet der verschiedenen Faktoren, die jede Rettung einzigartig machten, war der erste Schock, als wir am Einsatzort ankamen, jedes Mal derselbe. Ich hoffe, dass ich mir dieses Gefühl des Schocks bewahren kann, wenn ich weiterhin in der Seenotrettung arbeite oder wenn ich Bilder von Rettungseinsätzen im Internet sehe. Wir können und dürfen nicht desensibilisiert werden gegenüber der Tatsache, dass die Zahl von Menschen, die gezwungen sind, sich auf einem seeuntüchtigen Boot zusammenzudrängen, weil sie von Vertreibung betroffen sind und ihr Recht auf eine sichere Zukunft wahrzunehmen, eine Abnormität darstellt. Sie steht im Widerspruch zu den europäischen Behauptungen, die Menschenrechte eines jeden Einzelnen zu schützen und zu wahren.

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