„Ich kam nach Libyen, um einen Ausweg zu finden.“

Eine Person an Bord der Humanity 1 hält einen Teller mit Essen in der Hand.
Leon Salner / SOS Humanity

Gigi* floh wegen Verfolgung aus Kamerun. Mit einer Verletzung an der Hand durchquerte er Nigeria und Libyen und versuchte schließlich, nach Italien zu gelangen, um dort medizinische Hilfe zu erhalten. Im Mai 2024 wurde er von der Humanity 1 gerettet.

[Inhaltswarnungen: Tod, Krieg, Gewalt]

*Zum Schutz der Person wurde ihr Name geändert und sie ist nicht auf den Fotos abgebildet.

Kamerun

Ich komme aus Kamerun, aus der englischsprachigen Zone. Wir haben zwei englische Regionen, im Nordwesten und Südwesten. Zehn Regionen sind französisch dominiert, das sind viel mehr als die englisch dominierten. Viele der Ressourcen stammen aus der englischen Zone, wie Erdöl, Palmöl und die Bananenplantagen. Alles dort wird aber vom französischen Teil verwaltet. Die Menschen aus den englischen Regionen sind nur Arbeiter. Sie sind diejenigen, die auf der Farm arbeiten und kein gutes Gehalt bekommen. Sie werden wie Sklaven behandelt. Die Eltern können es sich nicht leisten, sich um die Familien zu kümmern. Viele Kinder gehen nicht zur Schule.

Infobox

Kamerun war von 1884 bis 1916 deutsche Kolonie. Danach begleiteten Großbritannien und Frankreich die Dekolonialisierung, sodass Kamerun heute aus einem großen frankophonen und zwei kleineren anglophonen Regionen besteht. Zum Schulbeginn 2016 wurden im anglophonen Teil systematisch die englische Sprache, sowie das britische Rechts- und Bildungssystem verdrängt. Armee und Polizei schlugen Gegenproteste brutal nieder und die Regierung intervenierte schließlich militärisch. Anglophone separatistische Gruppen reagierten, sodass sich der Konflikt Ende 2017 zu einem Bürgerkrieg entwickelte. Die anglophone Bevölkerung leidet bis heute unter den Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der Regierungsarmee, wie der Ermordung von Zivilpersonen, Massenverhaftungen, Folter und sexuellen Übergriffen.

Zwei Hände, die sich an einem Griff auf dem Rettungsboot festhalten. Im Hintergrund sind Menschen in Rettungswesten.
Judith Buethe / SOS Humanity

2016 begann eine Krise. Die Lehrer und Anwälte streikten. Die Eltern, die Väter, die Mütter, alle Kinder, sie protestierten auf der Straße. Sie wollten mit der Regierung sprechen, um sich zu beschweren. Ich war auch dabei. Aber sie ließen uns nicht [in das Regierungsgebäude] hinein. Die Menschen schliefen davor, aber die Regierung schenkte ihnen kein Gehör. Da beschlossen die Jugendlichen, selbst für ihre Rechte einzutreten. Das war 2016. Ich war 18 Jahre alt.

Dann begannen sie [Armee und Polizei], die Menschen schlecht zu behandeln, sie schlugen die Menschen. Im April 2017 schoss die Regierung auf einen Menschen. Die erste Person, die das Militär vor unseren Augen erschoss, das war so unwirklich wie in einem Traum. Und da beschlossen die anglophonen Kameruner, ihre eigenen Gruppen zu gründen und sich Waffen zu beschaffen. Aber man kann sie nicht identifizieren, weil sie keine Uniform haben. Sie begannen, aufeinander zu schießen. Manchmal, wenn diese Jungs einen Soldaten der Gegenseite töteten, wusste man, dass das ganze Dorf der englischen Seite untergehen würde. Nur wegen dieses einen Mannes, weil sie ihn nicht identifizieren konnten. Sie sagten einfach: „Oh, das sind Zivilisten.“ Die Soldaten kamen und begannen zu töten.

"Sie legten Feuer in den Häusern, brannten alles nieder. Es war ihnen egal, wer im Haus war. Sie schauten nicht nach Kindern. Sie verbrannten viele Menschen in ihren Häusern."

Als sie unser Haus niederbrannten, musste ich meine Familie ins Flüchtlingslager bringen. Ich selbst musste einen Weg nach draußen finden, weil sie nach Männern suchten. Als ich noch am selben Tag gehen musste, schossen sie mich mit einer Waffe nieder. Ich kann mich nicht einmal an diesen Moment erinnern, denn ich fiel in den Straßengraben. Sie schossen mich einfach an und fuhren weiter. Es gab andere Menschen auf der anderen Straßenseite, die zurückkamen. Ich habe sehr viel Blut verloren. Ich war etwa zwei Tage lang bewusstlos.

Nigeria

Als ich mich mit dem verletzten Bein und der Hand nach Nigeria durchschlug, begannen die Schmerzen. Ich sollte mich einer Operation unterziehen, aber das konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht leisten. Meine Freunde und ich beschlossen, nach Libyen zu gehen, weil Nigeria nicht einfach ist. Es ist sehr schwierig, in einem fremden Land zu sein, das man nicht kennt. Ich kam nach Libyen, um einen Ausweg zu finden. Wegen der Hand kann ich nichts tun, ich kann nicht wirklich arbeiten. Wenn ich die Hand eine Stunde lang benutze, fängt sie an, mir weh zu tun.

Libyen

Als ich in Libyen ankam, traf ich einen arabischen Mann. Er brachte mich in ein Krankenhaus. Sie machten einen Scan. Der Arzt sagte, ich könnte behandelt werden, aber dafür müssten sie mich nach Italien bringen. Aber den Preis, den sie verlangten, konnte ich mir nicht leisten.

"Dann bin ich zum ersten Mal aufs Meer hinausgefahren. Aber die Libyer haben uns abgefangen und in Libyen für etwa sechs Monate ins Gefängnis gesteckt."

Wir kamen raus und arbeiteten auf dem Bau. So haben sie uns freigelassen. Durch die Arbeit. Später haben wir es ein zweites Mal versucht. Aber wir wurden wieder erwischt. Sie haben uns wieder in ein Gefängnis gebracht, gequält und geschlagen. Im Gefängnis sind sogar Menschen gestorben. Sie lassen einen nicht frei, und wenn man keine Möglichkeit hat, einen Job zu finden, den man machen kann, dann stirbt man dort. Sie sagen, dass sie das tun, weil sie nicht wollen, dass wir aufs Wasser gehen. Sie wollen, dass man, wenn sie einen freilassen, nie wieder die Kraft hat, die Überquerung des Mittelmeers wieder zu versuchen. Also beim zweiten Mal dasselbe, ich brauchte immer noch ein Job, um rauszukommen.

Eine Person mit Sicherheitshelm fährt das RHIB, das Schnellboot, um ein Boot mit Menschen aus Seenot zu retten.
Leon Salner / SOS Humanity

Rettung

Dieses [dritte] Mal haben wir zu Gott gebetet. Um 1 Uhr morgens hatte unser Motor Probleme. Schließlich kam die Humanity 1 und half uns allen.
Ich möchte nicht nur nach Italien gehen, um meine Hand zu heilen oder irgendeine Arbeit zu verrichten. Ich möchte für diesen Job wieder zur Schule gehen. Das Bauwesen ist mein Traum, also möchte ich, dass meine Hand wieder in Ordnung kommt. Dann weiß ich, dass meine Familie etwas zu essen haben kann.

Heute sieht es in meinem Land nicht besser aus. Es wird immer schlimmer. Sie haben unsere Kakaofarmen niedergebrannt, weil der englische Teil hauptsächlich von der Landwirtschaft lebt. Die Kinder konnten sechs Jahre lang nicht zur Schule gehen. Es sterben immer noch Menschen.

[Dieses Interview wurde von Sofia Bifulco, Kommunikationskoordinatorin, während des 12. Rettungseinsatzes von der Humanity 1 geführt und aus dem Englischen übersetzt.]

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