„Ich dachte, wir würden die Morgendämmerung nie wieder sehen.“

Ein stark überbesetztes Schaluchboot bei Nacht im Scheinwerferlicht
Kevin McElvaney

Khaled* ist 20 Jahre alt und kommt aus Syrien. Er wurde am 4. November 2021 zusammen mit 68 weiteren flüchtenden Menschen aus einem überbesetzten Holzboot im zentralen Mittelmeer vor Libyen gerettet.

Der Text entstand an Bord des Rettungsschiffes Ocean Viking, welches wir bis zum Ende des Jahres 2021 als deutscher Teil des europäischen Netzwerkes SOS Mediterranee betrieben haben.

Am Ende des vierten Tages dachten wir, unsere Leben seien verloren.

In dieser Nacht war die See rau, mit zwei Meter hohen Wellen.

Es war stockdunkel, noch nicht einmal der Mond war zu sehen. Das Holzboot in Seenot war bereits in eine gefährliche Seitenlage geraten. Die Rettung musste schnell erfolgen, um ein Kentern des Bootes zu verhindern. Der Leiter des Such- und Rettungsteams der Ocean Viking entschied sich für das „Sandwich Manoeuvre“, bei dem jeweils ein RHIB (schnelles Rettungs-Beiboot) längsseits auf jede Seite des Holzbootes fährt, um es zu stabilisieren. So können die Insassen schnell von beiden Seiten auf ein RHIB gebracht werden. Aufgrund des starken Wellengangs bewegten sich das Holzboot und die RHIBs jedoch ständig auf und ab. Es war eine Herausforderung, nahe genug an der Seite zu bleiben, um die Menschen in Seenot sicher auf die Schnellboote bringen zu können. Sie brauchten dringend Hilfe, denn einige waren seekrank und schwach und waren akut in Gefahr, über Bord zu gehen.

Khaled* starrte das Team während der gesamten Rettung an und blieb ruhig und konzentriert. Er erhielt einen Bootshaken, den er auf der einen und die Crewmitglieder auf der anderen Seite festhielten, um das RHIB nahe am Holzboot zu halten. Die Retter*innen und Khaled sahen sich immer wieder an und lächelten. “Haltet durch, ihr macht das gut, haltet durch.” Als der allein reisende Khaled endlich sicher auf der Ocean Viking angekommen war, setzte er seine Unterstützung der Teams an Bord fort.

Khaled hat seine Heimatstadt im Jahr 2020 verlassen. “[Dort, wo ich früher in Syrien gelebt habe,] gibt es keinen Frieden. In den Nachrichten spricht niemand mehr über Syrien, aber die Situation ist nicht gelöst. Die Gewalt ist überall”, erzählt er an Bord der Ocean Viking. 

“Mein Vater ist letztes Jahr vor meinen Augen entführt worden, ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Ich konnte nicht mehr zur Schule gehen. Es gibt für mich keine Zukunft in Syrien.” 

Khaled flog nach Libyen, da ihm gesagt wurde, dass er kein Visum für die Einreise benötige. “Ich nutzte die Gelegenheit und flog dorthin, aber als ich ankam, nahmen mir die Behörden meinen Pass weg, und ich musste 1500 USD zahlen, um ihn wiederzubekommen.”

Khaled erklärt, er habe einen Job in einem Lebensmittelladen gefunden, damit er genug Geld hat, um seinen Pass zurückzubekommen. Der Besitzer des Lebensmittelladens hat ihm jedoch nur einen Drittel des vereinbarten Betrags gezahlt.

Er sagte, er habe nicht gewusst, dass die Situation in Libyen so schwierig sein würde: “Ich hatte gehört, dass ein Friedensprozess im Gange sei und dass bald freie Wahlen abgehalten würden, aber die Realität vor Ort sieht ganz anders aus. Ich habe es bald bereut, hierhergekommen zu sein.” Khaled hatte Glück und ist in keines der libyschen Internierungslager gekommen. Er hörte jedoch trotzdem von deren Existenz, als er mit anderen Menschen, insbesondere aus Ländern südlich der Sahara, sprach. “Ich habe so viele schreckliche Geschichten über die Gräueltaten gehört, die Menschen dort widerfahren, die noch jünger sind als ich”, flüstert er.

Nachdem er genug Geld verdient hatte, um seinen Pass zurückzubekommen, beschloss er, übers Mittelmeer zu fliehen. „Ich wusste, dass die Überfahrt gefährlich war, aber ich hatte Angst, zum Flughafen zurückzukehren und mir meinen Pass wieder wegnehmen zu lassen. In Libyen gab es keine Möglichkeiten für mich, also habe ich weitere 1500 USD bezahlt und bin auf ein Holzboot gestiegen.“

Während Khaled ruhig und konzentriert wirkte, als die Crew ihn auf dem Holzboot sah, gestand er später, dass er gedacht hatte, alle 69 Menschen an Bord würden dem sicheren Tod entgegengehen. “Es war so dunkel, dass wir nichts sehen konnten, nicht einmal Sterne. Das Boot bewegte sich auf und ab und von rechts nach links. Menschen mussten sich übergeben und wurden immer schwächer. Ich dachte, wir würden die Morgendämmerung nie wieder sehen. Aber dann seid ihr gekommen.“

„Als ihr in meiner Sprache zu uns gesprochen habt, habe ich verstanden, dass ihr hier seid, um uns zu retten. Das hat mich sofort beruhigt.” 

Sobald er sicher an Bord der Ocean Viking war, half Khaled dem Team, indem er Kisten trug und Tee und Decken verteilte. Während der Wartezeit auf der Ocean Viking erlebte er einen Sturm mit vier Meter hohen Wellen, der das Deck, auf dem Khaled schlief, überspülte, und sintflutartige Regenfälle. Er ging als einer von 314 Geretteten am 12. November in Augusta, Sizilien, von Bord. 

“Ich möchte weiter an der Universität studieren und Ingenieur werden. In meinem Land war das unmöglich. Aber ich hoffe, dass ich eines Tages dorthin zurückkehren kann.“

* Der Name wurde geändert, um die Identität des Überlebenden zu schützen.
* Aufgezeichnet von Teammitglied Claire auf der Ocean Viking.
* Bei dem Titelbild handelt es sich um ein Symbolbild.

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