„Es gibt keine Sicherheit und keine Zukunft in Libyen.“

Bei einem stark überbesetzten Holzboot hält sich rechts ein Mann an der Reling fest, um nicht ins Meer zu fallen
Kevin McElvaney

Am 19. September 2021, nachdem die Besatzung der Ocean Viking eine erste Rettung von 25 Personen durchgeführt und zwei Abfangaktionen der libyschen Küstenwache am Vortag miterlebt hatte, wurde mit einem Fernglas ein kleines Holzboot gesichtet. An Bord befanden sich insgesamt 33 Menschen in Seenot, darunter acht Frauen, dreizehn Kinder und drei Minderjährige. Unter ihnen war Mariam* aus Libyen. Gemeinsam mit ihrer Familie floh sie aufgrund der Gewalt und der chaotischen Zustände, die ihr Heimatland seit 2010 beherrschen.

Der Text entstand an Bord des Rettungsschiffes Ocean Viking, welches wir bis zum Ende des Jahres 2021 als deutscher Teil des europäischen Netzwerkes SOS Mediterranee betrieben haben.

Nach mehreren Tagen an Bord der Ocean Viking und während alle auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten, beschließt Mariam*, ihre Geschichte zu teilen.

Sie möchte erklären, warum sie mit ihren vier Kindern und ihrem Mann aus ihrem Land über das Meer geflohen ist: „Es gibt keine Sicherheit und keine Zukunft in Libyen“, beginnt sie.

„Wir mussten gehen, um die Zukunft unserer Kinder zu sichern, was in Libyen wegen der Gewalt und der Unsicherheit unmöglich ist.“

Für Mariam ist das größte Sicherheitsproblem in Libyen die Tatsache, dass das Land „im Grunde nur von Milizen regiert wird“. Mariam stammt aus Zuwara, einer Küstenstadt, in der sie nach eigenen Angaben gegen die „Herrschaft der Milizen“ demonstriert hat: „Meine Stadt ist sehr klein und komplett von Milizen umstellt. Sobald ich die Stadt verlasse, gibt es keine Sicherheit mehr. Alles wird von Milizen regiert.“

Seit 2010 und bis zu ihrer Flucht am 19. September 2021 spürte Mariam eine stets zunehmende Gefahr, die den Alltag ihrer Familie belastete. „Wenn ich zum Beispiel mit dem Auto nach Tripolis fuhr, musste ich immer daran denken, dass mich jederzeit jemand anhalten und entführen oder mir ohne jeden Grund etwas antun könnte.“ Mariam erklärt, dass es so viele aktive Gruppen und Milizen gibt, dass es für Opfer eines Angriffs fast unmöglich ist, ihren Angreifer zu identifizieren. Geschweige denn zu verstehen, warum die Verbrechen begangen werden.

„Die Gewalt ist so einfach und unmittelbar. In Libyen gibt es keine Kontrolle. Die Macht liegt in den Händen der Stärkeren, derjenigen, die mehr Waffen haben.“

„Wir haben viele Leichen gesehen, die an unseren Küsten angespült wurden.“

Neben den Milizen fürchtete Mariam auch die Schmuggelaktivitäten, die rund um ihre Stadt stattfanden. Zuwara ist einer der wichtigsten Häfen, von dem aus Schleuser und Menschenhändler Fliehende in überfüllte Boote setzen und in den wahrscheinlichen Tod schicken. Eine Realität, die Mariam nur zu gut kennt. „Wir wissen, dass sich viele Menschen aus Zuwara am Schleusergeschäft beteiligen. Wir haben mehrfach dagegen demonstriert, weil wir viele Leichen gesehen haben, die an unsere Küste gespült wurden“, flüstert sie und schaut auf ihre Hände.

Die Bewohner*innen von Zuwara haben sogar die sogenannte „maskierte Gruppe“ gegründet, erzählt Mariam*: eine zivile Bewegung, die Schleuser entlarvte und sie strafrechtlich verfolgen und inhaftieren ließ. Aber die Bewegung hat an Kraft verloren: „Diese Gruppe war anfangs ziemlich stark und konnte einen Teil der Schmuggelaktivitäten stoppen, aber sie erhielt keine Unterstützung von der Regierung und die Bürger hatten nicht die Mittel, um weiterzumachen. Heute gibt es die Gruppe noch, aber sie ist nicht mehr so stark wie früher“, bedauert sie.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Kinder zu Milizionären oder Schmugglern heranwachsen.“

Mariam und ihr Mann haben sich für die Flucht über das Meer entschieden, um die Zukunft ihrer vier Kinder zu sichern, die zwischen 6 und 12 Jahre alt sind:

"Meine einzige Möglichkeit, meine Familie und meine Kinder zu retten, war das Meer.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Kinder zu Milizionären oder Schmugglern heranwachsen. Das kann ich nicht zulassen.“ Mariam ist Lehrerin und ihr Mann war früher in leitender Funktion im öffentlichen Dienst tätig. „Wir waren wohlhabend. Geld war überhaupt kein Thema“, sagt sie. „Aber ich möchte, dass meine Kinder gut ausgebildet und zu einfühlsamen Menschen erzogen werden. Ich möchte ihnen ein lebenswertes Leben ermöglichen. Sie sollen keine unmoralische Jobs annehmen, nur um Geld zu verdienen.“

Sechs Tage, nachdem Mariam* und ihre Familie von der Ocean Viking gerettet wurden, half das Team von SOS Mediterranee vor ihren Augen einem anderen Holzboot in Seenot. Sie hatten Tränen in den Augen, obwohl die Schiffbrüchigen von der italienischen Küstenwache gerettet und an einem sicheren Ort an Land gebracht werden konnten. „Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das ich empfand, als ich sah, wie das Team den Einsatz durchführte“, erzählt sie. “Ich habe wieder die Gesichter der toten Körper am Strand liegen sehen. Ich habe mich hilflos gefühlt. Ich möchte helfen, ich weiß nur nicht, wie.“

* Der Name wurde geändert, um die Identität der Überlebenden zu schützen.
* Die Aussagen wurden von Laurence Bondard gesammelt und von Maram, Kommunikationsbeauftragte und kulturelle Vermittlerin von SOS Mediterranee, übersetzt.
* Bei dem Titelbild handelt es sich um ein Symbolbild.

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