„Ich würde gerne wissen: Wird das Leben in Europa wie das in Libyen sein?“

nach Rettung leeres Holzboot im Sonnenuntergang
Pietro Bertora / SOS Humanity

Ishar* und Amir* berichten von ihrer Flucht aus Burkina Faso über Libyen nach Europa. Sie erzählen ihre Geschichte und davon, dass die Flucht über das Zentrale Mittelmeer der einzige Ausweg war, um der Gewalt in Libyen zu entkommen. Sie wurden im Mai 2024 von der Crew der Humanity 1 gerettet.

*Die Namen wurden geändert und die beiden Überlebenden nicht auf den Fotos gezeigt, um ihre Identität zu schützen.

 

Ishar: Ich bin 24 Jahre alt und komme aus Burkina Faso. Nachdem ich meinen Schulabschluss gemacht hatte, wollte ich mit der Hilfe meiner Eltern studieren. Eigentlich hatten sie nicht die Mittel, aber meine Eltern taten alles, um mich zu unterstützen, indem sie Landwirtschaft betrieben. Ich schaffte es auf‘s College, aber dann mussten sie ihr Vieh verkaufen. Ich wollte studieren, bis ich meinen Abschluss hatte, denn ich habe so gerne gelernt. Ich war derjenige in meiner Familie, der „auserwählt“ wurde, nach Europa zu gehen, die anderen mussten zurückbleiben. Doch 2015 veranlassten uns die Krise im Land, der Mangel an Mitteln und die Binnenvertreibung, das Land zu verlassen.

Amir: In Burkina Faso war ich Schüler. Nach der Schule habe ich studiert, um einen Abschluss zu machen. Aber ich hatte nicht genug Geld, um meine Ausbildung zu finanzieren. Wegen der Krise und der internen Vertreibung waren wir gezwungen, die Schule abzubrechen, um unserer Familie zu helfen, die in Burkina Faso zurückgeblieben ist. Wir mussten in den Westen gehen. Wir haben es mehrere Male versucht. Beim letzten Mal hat es zum Glück geklappt.

Ishar: Es gibt Länder [in Afrika], in denen es keine Krise gibt, weil sie besser geführt werden. Aber dorthin kannst du nicht gehen. Wenn du dort ankommst, schauen dich die Leute nicht einmal an. Sie versuchen nicht, dich zu verstehen. In Europa könnte es vielleicht besser sein.

Wir wissen, dass es riskant ist, zu gehen. Aber wer es nicht versucht, hat nichts vom Leben. Wir haben keine andere Wahl, als zu gehen.

Entweder du bleibst zuhause und weinst, oder du stehst auf und gehst ein Risiko ein. Wenn Gott dir geholfen hat, wirst du auch anderen helfen.

Zuerst wollten wir durch Tunesien fahren. Von Burkina Faso nach Tunesien haben wir einen Monat gebraucht. Wir haben Burkina Faso als eine Gruppe verlassen und zuerst den Niger mit Pickups durch die Sahara-Wüste durchquert. Wir haben auch eine Woche in Algerien verbracht. Als wir Algerien verließen, überquerten wir die Grenze nach Tunesien. Einige wurden zurückgeschickt, 60 Menschen (von 80) blieben in Tunesien. Und dann habe ich gesagt, dass wir keine andere Wahl haben. Wir müssen versuchen, die Grenze zu überqueren. Wir stiegen in ein Boot mit 40 anderen Menschen. Aber das Boot hatte einen viel zu schwachen Motor und konnte nicht richtig fahren. Die tunesische Nationalgarde erwischte und verhaftete uns.

Amir: Wir verbrachten zwei Tage im Gefängnis in Tunesien, bevor wir nach Libyen gebracht wurden.

Ishar: Von Tunesien aus wurden wir nach Libyen in ein Gefängnis gebracht. Wir wurden bedroht und erpresst. Wir mussten 3.000 Dinar bezahlen, um freizukommen.

Sie brachten uns in das Haus eines Libyers. Dort waren die Hühner groß und es gab überall Bäume. Aber wir hatten nichts zu essen. Eigentlich sollten sie uns hier versorgen. Wir wuschen ihre Füße und alles andere, wir putzten auch den Garten. Wir gossen die Pflanzen, die im Haus standen – das alles, nur um schlafen zu dürfen. Das war keine Arbeitsstelle. Dann sahen zwei Burkinabé, die in Libyen leben, dass wir auf der Straße schliefen und einen Job suchten, und nahmen uns für eine Woche auf, wir bekamen Essen und eine Dusche. Wir sprachen die gleiche Sprache: Mòoré.

Die Libyer mögen uns nicht. Sie behandeln uns wie Tiere. Wenn es nicht einige „Brüder“ gegeben hätte, die uns willkommen geheißen hätten, wären wir jetzt nicht mehr am Leben, glaube ich.
survivor from the back looking to the sea, on board
Pietro Bertora / SOS Humanity

Es ist sehr schwierig, Essen zu bekommen. Es gibt keine Arbeit. Wenn die Polizisten uns gefangen nehmen, werden wir in ein Gefängnis gesteckt. Dort wird man geschlagen, bis man wieder zahlt. Es gab nichts zu essen. Wir haben dort zusammen geweint.

Ishar: Während dieser fünf Monate in Libyen haben wir viel gelitten. Es gibt dort keine Sicherheit; ständig hörten wir Schüsse. Man kann nicht einmal 100 Meter weit rausgehen, da muss man schon um sein Leben rennen. Es gibt keinen Ort, an dem man nach einem Job suchen kann. Die Regel ist, dass sie sagen sie zahlen 100 Dinar, aber dann geben sie dir nur 20. Du hast keine Wahl. Wenn du redest, wirst du verprügelt. Also bekommst du oft für deine Arbeit kein Geld. Wir wussten nicht, an wen wir uns wenden konnten, wer uns helfen konnte. Also beschlossen wir, dass wir gehen mussten.

Amir: Wir haben versucht, Lösungen zu finden. Vor der Überfahrt gibt es viele Risiken. Deshalb haben wir uns auch Zeit gelassen. Wir mussten gut informiert sein, wenn ein Boot losfuhr. Damit wir nicht demselben Risiko ausgesetzt sind [erwischt zu werden]. Diesmal haben wir uns viel Zeit gelassen, um ein gutes Boot zu finden.

Ishar: Wir haben Kameruner getroffen und sie gefragt, wie man das Meer überquert. Dadurch hatten wir ein paar Informationen. Sechs von uns taten sich zusammen, um gemeinsam Geld zu sammeln und es zu versuchen. Bevor es [von Tripolis] losging, hatten wir eine Woche lang nichts zu essen. Die anderen Leute, mit denen wir auf die Abfahrt warteten, hatten Wasser und Kekse. Schließlich brachen wir auf. Vom Boot riefen wir eine Person an, die wir in Libyen kannten, aus Kamerun, per Telefon. Wir waren in Kontakt, aber es war ein normales Telefon, kein Satellitentelefon – und dann war der Akku leer.

Wir verloren einen Teil des Motors und von da an waren wir praktisch verloren. Als es Abend wurde, legten wir uns hin und beteten, weil wir nichts anderes tun konnten.

Wir hielten nach Schiffen Ausschau, aber wir konnten nichts sehen. Zu diesem Zeitpunkt wollten wir einfach nur in Sicherheit sein, egal, wer uns retten würde. Das Meer spielte verrückt, es gab viele Wellen. Als wir euer Schiff [Humanity 1] sahen, dachten wir, es sei die libysche Küstenwache. Aber als wir die kleinen Boote [die RHIBs] kommen sahen, wussten wir, dass wir gerettet werden würden. Das war ein Moment der Freude. Es war wie im Paradies, würde ich sagen. Wir waren sehr glücklich. Sobald wir in Europa sind, werde ich etwas tun können, um meine Familie zu unterstützen. Denn das ist das Wichtigste.

Amir: Wir können Gott dafür danken, dass wir jetzt hier [an Bord der Humanity 1] sind. Wir Menschen sind alle gleich. Mein Traum ist es, meine Familie zu unterstützen und Menschen, die ihre Bedürfnisse nicht befriedigen können. Wenn es möglich ist, möchte ich auch alle anderen unterstützen, die Hilfe brauchen. Ich würde gerne wissen: Wird das Leben in Europa wie das in Libyen sein?

Dieses Interview wurde im Mai 2024 von Kommunikationskoordinatorin Sofia Bifulco an Bord der Humanity 1 auf Französisch geführt und aufgezeichnet.

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