“Die tunesische Küstenwache brachte sie zurück in die Wüste”

Francesco_Roncoli_SOS_Humanity

Thibaut* wurde während unseres 18. Einsatzes von der Crew des Rettungsschiffes Humanity 1 gerettet. Der 17-jähriger Überlebender aus Guinea hat seine Geschichte mit uns geteilt. 

*Name zum Schutz geändert

Guinea-Conakry

Ich komme aus Guinea-Conakry. Als ich sechs Monate alt war, verließ meine Mutter, die von meinem Vater rausgeworfen worden war, mich und meinen älteren Bruder. Wir wurden von meiner Großmutter aufgenommen, die uns zunächst großzog. Doch dann bekamen wir einen Paten, der uns seinen Namen gab, was uns viele Probleme bereitete. Denn er hatte bereits Kinder und eine Frau, die uns sehr schlecht behandelten.   

Wir mussten auf dem Markt Süßigkeiten verkaufen, das Haus putzen und durften nicht zur Schule gehen. Wir rannten weg, mein Bruder schloss sich einer Gang an, um uns zu ernähren, und wir begannen, auf der Straße zu schlafen. Ich werde nie vergessen, was mein Bruder für mich getan hat. Wegen verschiedener kleiner Delikte verbrachte er drei Monate im Gefängnis, und ich wurde auf der Polizeiwache in Gewahrsam genommen. Ich war erst acht Jahre alt. Unsere Großmutter nahm uns wieder bei sich auf, bis sie 2021 an Diabetes starb. Ich war dreizehn und hatte niemanden mehr.   

Mein Vater ließ uns bei Nachbarn zurück, aber mein Bruder beschloss, dass wir uns nach Italien durchschlagen sollten, um dort unseren Lebensunterhalt zu verdienen. In Afrika gibt es keine Arbeit, keine Löhne. Außerdem gab es niemanden, der uns beim Lernen unterstützt, uns angeleitet oder uns beim Nachdenken geholfen hätte. In Europa ist das anders. Mein Bruder hat sich Geld von einem Bekannten geliehen. Wir sind mit dem Taxi von Conakry nach Mali gefahren, mit dem Boot in die Hauptstadt Timbuktu und dann mit einem Pick-up-Truck zur Grenze zwischen Mali und Algerien. Dort erklärten uns einige Guineer, was eine solche Reise bedeutete. Dass es wie das Leben im Dschungel sei und dass nur die Stärksten überlebten. Wir nahmen ein „Schmuggler-Taxi“, das Menschen durch die Wüste schleust. Die Polizei kontrollierte das Auto und wir mussten uns auf dem Boden verstecken. Danach liefen wir mehrere Tage lang durch die Wüste. 

Überlebender auf dem Schiff, Blick aufs Meer

Schließlich ging uns die Nahrung aus und hatten kein Wasser mehr und waren durstig, sehr durstig. Drei Menschen starben. Mein Bruder fiel erschöpft zu Boden, unfähig weiter zu laufen. Er verdurstete.

Seine letzten Worte an mich waren, ich müsse weitergehen, mein Leben retten und nach Italien gelangen. Ich segnete ihn und musste seinen Leichnam in der Wüste zurücklassen. 

Man sagte mir, ich solle auf ein Boot warten. Aber die tunesische Küstenwache fing sie auf See ab und brachte sie zurück in die Wüste.

Grenze zwischen Algerien und Tunesien

Dann überquerte ich die Grenze zwischen Algerien und Tunesien. Ich hatte keinen Cent in der Tasche, aber ich traf einen Mann aus Guinea. Er sah, wie jung ich war, und ich erzählte ihm, dass mein Bruder in der Wüste gestorben war. Er hatte Mitleid mit mir und bezahlte mir die Fahrt nach Tunesien, nach Sfax. Dort hörte ich von den Razzien, den Gefängnissen und den Deportationen von Schwarzen in die libysche Wüste. Jemand sagte mir, dass die Tunesier kleine Boote mit Motoren bauten. Ein Tunesier half mir, denn ich hatte kein Geld. Man sagte mir, ich solle auf ein Boot warten. Aber mit dem Boot kamen wir nicht weit, die Küstenwache nahm uns den Motor und unsere Telefone weg und brachte uns zurück an die Küste. Bei meinem zweiten Versuch holte uns die tunesische Küstenwache vor den Kerkennah-Inseln ein und brachte uns zurück, diesmal in die Wüste. Ich beschloss dann, für ein paar Monate in Tunis in einer Tischlerei zu arbeiten. Auf dem Weg nach Süden wurde ich angegriffen, weil ich schwarz bin. Sie nahmen mir das ganze Geld weg, das ich in Tunis verdient hatte. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf und kehrte an die Küste bei Sfax zurück.  

Mitten in der Nacht bestieg ich zum dritten Mal ein Boot. Ein Araber brachte uns an Bord, startete den Motor und wünschte uns viel Glück. Doch die Handybatterie des Kapitäns, das einen Kompass hatte, war bald leer, und wir wussten nicht, wohin wir fahren sollten. Der Motor ging kaputt. Wir blieben stundenlang auf See. Wasser drang in das Boot ein, und wir schöpften es mit Bechern heraus. Das Wetter hatte sich geändert. Wir blieben mehrere Tage lang ohne Essen, auch das Wasser war verbraucht. Wir hatten nichts mehr.

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Wir blieben mehrere Tage lang ohne Essen, auch das Wasser war verbraucht. Wir hatten nichts mehr. Eine Frau starb auf dem Boot. Niemand wagte es, sie anzurühren, weil sie tot war.

Ich muss nach Italien kommen. Ich muss um Jeden Preis Weiter Machen. 

Eine Frau starb auf dem Boot. Niemand wagte es, sie anzurühren, weil sie tot war. Es war das erste Mal, dass die anderen eine Leiche gesehen hatten. Aber ich hatte bereits meinen Bruder sterben sehen, also sagte ich, wir müssten ein Ritual durchführen und die Leiche ins Meer werfen. Das habe ich getan. Dann sagte ich, ich würde schwimmen und das Boot nach Italien schieben, weil der Motor kaputt war. Also sprang ich ins Wasser, um das Boot zu schieben, zuerst allein, dann kamen andere dazu. Wir schoben das Boot, aber wir waren erschöpft.

Ich sah Babys weinen und Frauen Meerwasser trinken. Das hat mich sehr bewegt. Ich sah ein Flugzeug über uns kreisen und dann wegfliegen. Ich hoffte, wir würden gerettet werden. Wir schoben das Boot weiter. Dann kamt ihr und habt uns das Leben gerettet. Das war der Wunsch meines Bruders. Ich bin glücklich, weil ich nach Italien gehe, um zu arbeiten und Geld zu verdienen, um meinem Vater zu helfen und Fußball zu spielen.

Woher nehme ich die Kraft? Aus der Tatsache, dass ich Guinea mit meinem Bruder verlassen habe. Ohne meinen Bruder kann ich nicht zurück. Ich muss nach Italien kommen. Ich muss um jeden Preis weitermachen.