„Als der zweite Motor ausfiel, dachte ich, es sei vorbei“

Hand eines Geretteten auf dem Reling der Humanity 1 mit einer Kette und dem Meer im Hintergrund.
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Der 53-jährige Rami* kommt aus Syrien – wie viele andere Schutzsuchende, die die Crew der Humanity 1 rettet. Rami flieht im Oktober 2022, mit seinen beiden minderjährigen Neffen, deren Väter tot sind, von Libyen aus in einem seeuntauglichen Holzboot. Nach vier Tagen und drei Nächten auf See werden die 45 Menschen von der Crew der Humanity 1 gerettet. An Bord erzählt Rami seine Geschichte.

Ich komme aus Daraa in Syrien. Zu Beginn des Aufstandes in Syrien lebte ich wegen meiner Arbeit in Damaskus.

Am 17. September 2012 erhielt ich einen Anruf von meiner Familie, in dem mir mitgeteilt wurde, dass mein älterer Bruder an einer Schusswunde gestorben war. Aufgrund der Konflikte musste ich meine Arbeit in Damaskus aufgeben und blieb bei meiner Familie in Daraa. Fünfzehn Tage nach dem Tod meines Bruders marschierte die Armee des Regimes erneut in unsere Stadt ein und brannte Häuser nieder, darunter auch meines. Sie brachen die Tür auf und setzten das Haus in Brand, ebenso wie andere Häuser im Dorf.

Während dieser Zeit hielt sich meine Familie – mein Vater, meine Stiefmutter, meine Geschwister und deren Ehepartner – in einer anderen Stadt auf, da unsere Stadt mit Flugzeugen, Mörsern und allen möglichen Waffen bombardiert wurde. Von Oktober 2012 bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich an keiner Aktion oder Erklärung gegen das syrische Regime beteiligt. Als ich jedoch sah, dass das Regime keinen Unterschied zwischen Anhängern und Gegnern in unserer Stadt machte, schloss ich mich den Protesten an, die dort stattfanden. Am 17. März 2013 wurde mein zweiter Bruder getötet.

"Die Ernten waren aufgrund des Regenmangels mager. Meine Sicherheit war bedroht. Deshalb beschloss ich zu fliehen."

Der Krieg dauerte viele Jahre an, und ein weiterer Bruder von mir wurde in den Kopf geschossen, was dazu führte, dass er gelähmt und behindert war.

Nachdem das Regime 2018 die Kontrolle zurückerobert hatte, erwarteten wir, dass sich die Dinge normalisieren und das Leben wieder aufgenommen würde, aber das Gegenteil war der Fall. In dieser Zeit breiteten sich Diebstähle und Banden aus, und Drogen waren weit verbreitet.

Was die Lebensbedingungen betrifft, so wurden die Lebenshaltungskosten exorbitant und die Preise stiegen von Tag zu Tag, insbesondere durch den Anstieg des Dollars gegenüber dem syrischen Pfund. In dieser Zeit arbeitete ich in der Landwirtschaft, aber die Ernten waren wegen des fehlenden Regens mager. Daher beschloss ich, mit zwei meiner Neffen auszuwandern, in der Hoffnung auf neue Lebens- und Bildungschancen. Die Entscheidung wurde ein Jahr vor ihrer Umsetzung getroffen, da es schwierig war, das nötige Geld für die Reise aufzutreiben.

Menschen sprechen und sitzen an Bord der Humanity 1 mit gelben und roten T-Shirts
Raphael Schumacher / SOS Humanity

Seit 2014/2015 sind Syrer nach Deutschland eingewandert. Warum hast du zu diesem Zeitpunkt nicht daran gedacht, das Land zu verlassen?

Um ehrlich zu sein hatte ich aufgrund meines Alters – ich war über 50 Jahre alt – nicht die Absicht auszuwandern. Aber was mich dazu veranlasste, ernsthaft über eine Auswanderung nachzudenken, war die Tatsache, dass meine Sicherheit bedroht war. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte mich bewaffneten Gruppen angeschlossen und direkten Kontakt zu ihnen in Damaskus und in Daraa gehabt, obwohl das nicht so war. Trotz mehrerer Amnestien durch den Präsidenten blieb die Anklage gegen mich bestehen, so dass ich an jedem militärischen Kontrollpunkt in der Gegend hätte verhaftet werden können, wenn mein Ausweis kontrolliert worden wäre. Ich wurde von den militärischen und politischen Inlandsgeheimdiensten gesucht.

Deine Entscheidung zu flüchten hatte also nicht nur mit deinen Lebensbedingungen zu tun, sondern auch mit dem Ziel, dich zu schützen?

Ja. Selbst mein Versuch, einen Pass zu bekommen, war gescheitert, so dass ich illegal in den Libanon einreisen und dort 1.200 Dollar bezahlen musste, um einen syrischen Pass zu bekommen. Dann reiste ich über den Libanon nach Libyen, und ich entschied mich trotz der damit verbundenen Risiken und der Gefahr der Überfahrt [über das Mittelmeer] für die Reise über Libyen.

Weil ich in einer schwierigen finanziellen Lage war. Der Landweg nach Libyen war die billigste unter den allen Möglichkeiten.

Wie bist du nach Libyen gekommen, und welche Transportmittel hast du benutzt?

Wir sind mit dem Flugzeug gekommen. Ich kam aus dem Libanon, ein Neffe kam aus Syrien und ein anderer Neffe kam aus Jordanien.

Wann seid ihr in Libyen angekommen und wie habt ihr euch gefunden?

Ich kam am 7. Oktober an, und am Flughafen wartete ein Fahrer auf uns. Er holte meine Neffen und dann mich ab und brachte uns zu einem Schleuser in Ajdabiya an der Ostküste Libyens. Wir wohnten etwa zwei Wochen lang mit einer Gruppe von Ägyptern und Bangladeshi in einem Lagerhaus. Dann kam der Moment der Abfahrt, wir wurden zum Meer gebracht und fuhren am Mittwoch gegen ein Uhr morgens mit dem Boot in Richtung Europa los. Ich habe nicht den Schleuser getroffen, sondern nur den Vermittler, der vielen Menschen aus meiner Stadt geholfen hat, auf die gleiche Weise zu emigrieren.

Beine und Füße von Menschen, die auf einem Schlauchboot sitzen, und auf dem Vordergrund Wasser.
Max Cavallari / SOS Humanity

Als du ankamst und das Boot sahst, entsprachen die Bedingungen deinen Erwartungen und den Versprechungen des Vermittlers?

Nein, gar nicht. Man hatte uns gesagt, dass wir mit einem Schiff fahren würden, das 300 bis 400 Menschen aufnehmen kann, aber was wir vorfanden, war ein kleines Boot. Als wir den Schmuggler fragten, sagte er uns, dass er nur solche Boote habe und behauptete, der Vermittler habe uns belogen.

Scheinwerfer der Humanity 1 treffen auf ein Boot mit Geflüchteten, Schwarz-Weiß Foto
Raphael Schumacher / SOS Humanity

Wurdet ihr gezwungen, dieses Boot zu nehmen? Hatten ihr die Möglichkeit, auf ein besseres Boot zu warten?

Nein, wir wurden nicht gezwungen, das Boot zu besteigen und loszufahren. Ich hatte gesehen, wie sehr meine Neffen darauf bestanden, die Reise zu Ende zu führen, also nahmen wir freiwillig das Boot. Das war alles, was uns zur Verfügung stand.

"Als der zweite Motor ausfiel, dachte ich, es sei vorbei."

Hattest du Angst um dein Leben und das deiner Neffen?

Natürlich war ich sehr besorgt, denn es war unsere erste Fahrt über das Meer, und es war ein gefährliches Abenteuer. Ich habe mir mehr Sorgen um das Leben meiner Neffen gemacht als um mein eigenes, weil ich eine Verantwortung gegenüber ihren Müttern habe, weil sie ihre Väter verloren haben und ich für sie wie eine Vaterfigur bin. Aber Gott sei Dank sind wir jetzt in Sicherheit.

Wie lange wart ihr auf See?

Wir waren vier Tage und drei Nächte unterwegs, bis ihr uns am gefunden habt.

Was hat euch der Schleuser auf dem Boot an Essen, Satellitentelefon usw. zur Verfügung gestellt?

Es gab fünf Kanister Benzin für das Boot, und wir hatten Datteln, Saft, Brot und Wasser dabei. Der Schmuggler sagte uns, dass wir am zweiten Tag der Fahrt die Lichter in Italien sehen würden.

Wann hast du angefangen, dir Sorgen zu machen?

Am zweiten Tag, als wir ein Problem mit dem Motor hatten. Das konnten wir aber beheben. Dann fiel der zweite Motor aus, und einige von uns fingen an, sich zu streiten, sodass ich dachte, nun könnte es vorbei sein.

Aber die Angst war von Anfang bis zum Ende der Überfahrt da, denn es war meine erste Erfahrung auf See.

Kannst du schwimmen?

Selbst wenn ich schwimmen könnte, wäre das in meinem Alter sehr anstrengend. Ich weiß, dass ein Neffe schwimmen kann, aber bei dem anderen bin ich mir nicht sicher.

Hattet ihr ein Satellitentelefon?

Ja, der Schmuggler hat es uns gegeben, damit wir mit der italienischen Küstenwache kommunizieren können.

Habt ihr um Hilfe gerufen, als der Motor ausfiel?

Nein, denn einige Leute konnten ihn reparieren, und wir setzten unsere Überfahrt fort. Der Anruf erfolgte am dritten Tag. Wir haben einmal, zweimal und dreimal angerufen, aber es kam keine Antwort. Schließlich meldete sich die italienische Küstenwache. Als wir erklärten, dass wir fast ertrinken und sterben würden, antworteten sie, das sei normal und sie könnten im Moment nichts für uns tun.

Warum habt ihr um Hilfe gerufen?

Wir haben die Anweisungen des Schleusers befolgt, der uns sagte, dass wir um Hilfe rufen sollen, wenn wir italienische Gewässer erreichen, damit die Küstenwache kommt und uns rettet.

"Ich wusste nichts von humanitären Organisationen."
Zwei Gerettete an Bord der Humanity 1 blicken auf das Wasser des Mittelmeers.
Max Hirzel / SOS Humanity

Habt ihr gedacht, dass ihr nicht überleben würdet?

Ich dachte, wir würden nicht überleben, als die Dunkelheit hereinbrach und ich damit rechnete, dass wir noch einen Tag auf See bleiben würden. Als ihr kamt, saß ich noch unten, und als ich hörte, dass einer von uns sagte, dass wir Syrer sind, wusste ich, dass ihr kommt, um uns zu retten, und ging hoch.

Hattest du schon einmal von Rettungsschiffen gehört?

Seit ich in Syrien war, wusste ich, dass die Küstenwache kommen würde, wenn wir in der Nähe der italienischen Küste ankommen, um die Menschen zu retten. Ich wusste nichts von humanitären Organisationen, nur von der Küstenwache.

Beine und Füße eines Geretteten, der gerade von Bord der Humanity 1 geht.
Raphael Schumacher / SOS Humanity

Wusstet ihr, wie die sogenannte libysche Küstenwache mit Menschen umgeht, die über das Mittelmeer fliehen?

Natürlich wussten wir, dass sie diejenigen, die sie gefangen nehmen, inhaftieren und nur gegen Geld freilassen würden. Mein Cousin hat versucht, das Meer zu überqueren, aber die libysche Küstenwache hat ihn verhaftet und zehn Tage lang eingesperrt.

Hattest du Angst, dass euch das passieren könnte?

Auf jeden Fall.

Viele Menschen haben mehrmals versucht, ein Boot zu nehmen und wurden verhaftet, dann haben sie Geld bezahlt und wurden freigelassen, und so weiter… Ein Afrikaner hier an Bord der Humanity 1 hat mir erzählt, dass er dreimal von der libyschen Küstenwache verhaftet wurde und dreimal bezahlt hat, bis er in Sicherheit war.

Ich habe ähnliche Geschichten von vielen Menschen gehört.

Möchtest du noch etwas hinzufügen, nach dem ich dich noch nicht gefragt habe?

Ich habe einen persönlichen Wunsch: Ich hoffe, ein besseres Leben zu finden, und ich hoffe, dass die Kinder meiner Brüder sich in das westliche Leben integrieren können, das sich kulturell von unserem Leben unterscheidet, und dass sie die Möglichkeit haben, zu lernen, zu arbeiten und ein besseres Leben ohne Angst zu führen.

 

*Name geändert und nicht auf den Fotos abgebildet. Das Interview wurde von Crewmitglied Petra Krischok geführt. Dolmetscher Arabisch-Englisch: Kulturmediator an Bord Fares.

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