Zehn Jahre Seenotrettung auf dem Mittelmeer

Scene of a rescue operation with the RHIB of SOS Humanity on the rights side and a refugee boat on the left side. One crew member is leaning over to the other boat to hand over life jackets.
Wanda Proft / SOS Humanity

Zehn Jahre zivile Seenotrettung auf dem zentralen Mittelmeer – ein Grund zum Feiern? Ein Festtag im traditionellen Sinne ist es keineswegs, denn dieses Jubiläum erinnert unweigerlich an die anhaltende humanitäre Katastrophe, die Millionen Menschen auf eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt zwingt. Das Mittelmeer ist dadurch zu einem Massengrab geworden, ein trauriges Zeugnis der tödlichen Konsequenzen europäischer Abschottungspolitik. Erfahre hier mehr über die Anfänge und Herausforderungen der zivilen Seenotrettung.

Balkendiagramm, das die absoluten Todeszahlen von Migranten in Italien von 2015 bis 2024 zeigt. Über jedem Balken ist zusätzlich die Todesrate in Prozent angegeben, die sich aus dem Verhältnis von Todeszahlen und Ankünften ergibt.
IOM Missing Migrants Project

Wie alles begann: Eine Bewegung aus der Zivilgesellschaft

Die zentrale Mittelmeerroute ist seit den 2000er Jahren eine der wichtigsten Migrationsrouten nach Europa. Seit 2011 kam es vermehrt zu Rückführungen nach Libyen und Schiffsunglücken. Als Reaktion startete Italien 2013 die staatliche Operation Mare Nostrum.

Erfahre in diesem Video mehr über die Hoffnung, die die Gründung von SOS Humanity antrieb und warum diese heute immer noch aktuell ist: 

Demonstrant*innen halten ein Schild mit "Solidarität statt Hetze" bei einer Demo gegen die AFD.
Wanda Proft / SOS Humanity

2014 wurde Mare Nostrum mangels EU-Finanzierung eingestellt und durch eine Frontex-Grenzschutzmission ersetzt. Die Staaten kamen ihrer völkerrechtlichen Pflicht zur Seenotrettung nicht nach. Die Folgen waren fatal: 2015 kamen in einem Schiffsunglück schätzungsweise 700-900 Menschen ums Leben. Menschen aus der Zivilgesellschaft begannen selbst zu handeln und Leben zu retten: Das war die Geburtsstunde von SOS Humanity und anderen zivilen Seennotrettungsorganisationen. 

Eine Hand markiert mit bunten Fäden Fluchtrouten von unterschiedlichen Ländern nach Europa.
Wanda Proft / SOS Humanity

Durch die starke Einschränkung der Migration über die Balkanroute und das EU-Türkei-Abkommen 2016 verlagerten sich die Fluchtbewegungen. Dies führte zu einem drastischen Anstieg der Todeszahlen auf der zentralen Mittelmeerroute (siehe Abbildung 1). Die sogenannte “Flüchtlingskrise” offenbarte sich somit als eine Solidaritätskrise der EU-Staaten.

Politische Behinderung statt Unterstützung

Anfang 2017 eskalierte die europäische Abschottungspolitik. Zwar hatte die EU bereits 2016 erste Ausbildungen für die sogenannte libysche Küstenwache finanziert, doch die Unterzeichnung der Erklärung von Malta war ein einschneidender Wendepunkt: Hierin forcierte die EU ihre finanzielle und materielle Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache maßgeblich. Dies legte den Grundstein für systematische Rückführungen nach Libyen, wo Flüchtenden Folter und schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen.

Horizontales Balkendiagramm zu den illegalen Rückführungen und Ankünften auf der zentralen Mittelmeerroute für die Jahre 2015 bis 2024. Die Länge der Balken zeigt die Gesamtzahl der Ankünfte und Rückführungen für jedes Jahr an.
UNHCR, IOM Libyen, FTDES, Tunisian National Guard, Ministry of Interior
Crewmitglied mit gelben Helm auf dem Kopf, dem Schriftzug "Saving Lives is Not a Crime" auf den Armen, die vor der Brus gekreuzt sind an Bord der Humanity 1.
Camilla Kranzusch / SOS Humanity

Italien führte restriktive Verhaltenskodizes für NGOs ein, während Frontex die Grenzkontrollen ausbaute. Es folgten Festsetzungen von Schiffen und Kriminalisierungsversuche gegen Seenotretter*innen, denen unrechtmäßig Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen wurde.

Die Crew von SOS Humanity steht vor dem Schiff Humanity 1 im Hafen und hält ein Banner mit der Aufschrift "Free Humanity 1"
Camilla Kranzusch / SOS Humanity

Die systematische Behinderung durch geschlossene Häfen wurde Ende 2022 durch die Praxis der weit entfernten Häfen ersetzt. Die Situation verschärfte sich 2023 durch das Piantedosi-Dekret und 2024 durch die Erweiterung, das Flussi-Gesetz, die beide zu weiteren Festsetzungen von Rettungsschiffen führten und die Seenotrettung weiterhin massiv einschränken. Bei mehrfachen Verstößen gegen die Dekrete droht eine Beschlagnahmung des NGO-Schiffs.

Die Abbildung veranschaulicht visuell die verlorene Einsatzzeit und zusätzlichenn Seemeilen, die zivilen Seenotrettungsschiffen durch die Zuweisung von weit entfernten Häfen entstehen.
SOS Humanity
Die Illustration veranschaulicht die 28 Festsetzungen von zivilen Seenotrettungsschiffen. Die Zahl 680 steht für die Gesamtdauer dieser Festsetzungen in Tagen.
SOS Humanity

Kursänderung in Sicht?

Während weitere Kriminalisierungsversuche ziviler Seenotretter*innen, etwa durch das deutsche Rückführungsverbesserungsgesetz 2024 und die Untergrabung des Asylrechts durch die GEAS-Reform, die Lage zuspitzen, bleibt ein staatlich koordiniertes Seenotrettungsprogramm weiterhin aus. Doch wir werden uns weiter für eine Welt einsetzen, in der niemand auf der Flucht ertrinken muss!

"Wenn die Politik versagt, liegt es an uns, Kurs zu halten. Auf Menschlichkeit, auf Solidarität und Rechtsstaatlichkeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass Europas Werte und das Recht auf Leben im Mittelmeer untergehen."