Juristische Einschätzung zur Gesetzesänderung durch das BMI

Gelber Rettungsring auf blauem Wasser.
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Juristische Einschätzung

von Vera Magali Keller und David Werdermann zu den Folgen der Formulierungshilfe des Bundesministeriums des Innern und für Heimat für den Änderungsantrag zum Entwurf des Rückführungsverbesserungsgesetzes

 

Vorgeschlagene Formulierungshilfe

Die Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Fraktionen der SPD, von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) (im Folgenden: „der Vorschlag“) des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (im Folgenden „das BMI“) sieht durch die Änderung des § 96 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine Ausweitung der Strafbarkeit der Fluchthilfe vor[1]. Durch die Änderung könnten Seenotrettung und andere humanitäre Unterstützungshandlungen für Personen auf der Flucht in Zukunft mit Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren strafbewehrt werden.

Konsequenzen der potentiellen Gesetzesänderung für die zivile Seenotrettung

Der Vorschlag des BMI sieht nun eine Ausweitung der Strafbarkeit für uneigennütziges Hilfeleisten zur Einreise vor. Durch einen Verweis von Abs. 4 auf den gesamten Abs. 1 Nr. 1 soll die Strafbarkeit des Hilfeleisten zur Einreise in einen anderen EU-Staat in Zukunft auch das uneigennützige Hilfeleisten zur Einreise umfassen, wenn es wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern erfolgt. Durch eine Änderung des Abs. 2 S. 2 und einen neuen Verweis darauf in Abs. 4 soll in Zukunft zudem das uneigennützige Hilfeleisten zur Einreise von unbegleiteten Minderjährigen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren strafbewehrt sein.

Aktueller Gesetzesstand

Nach aktuellem Gesetzesstand macht sich strafbar, wer einem anderen dazu Hilfe leistet, ohne erforderlichen Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet einzureisen, wenn dies gegen einen Vorteil (Nr. 1 a) oder wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern (Nr. 1 b) erfolgt. Das Hilfeleisten zur Einreise in einen anderen EU- oder Schengen-Staat, ist bisher nur strafbar, wenn es gegen einen Vorteil erfolgt oder bestimmte Qualifikationstatbestände des Abs. 2 erfüllt, § 96 Abs. 4, Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 2 Nr. 1, 2 und 5 AufenthG.

Änderungsvorschlag des BMI

Der Vorschlag des BMI sieht nun eine Ausweitung der Strafbarkeit für uneigennütziges Hilfeleisten zur Einreise vor. Durch einen Verweis von Abs. 4 auf den gesamten Abs. 1 Nr. 1 soll die Strafbarkeit des Hilfeleisten zur Einreise in einen anderen EU-Staat in Zukunft auch das uneigennützige Hilfeleisten zur Einreise umfassen, wenn es wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern erfolgt. Durch eine Änderung des Abs. 2 S. 2 und einen neuen Verweis darauf in Abs. 4 soll in Zukunft zudem das uneigennützige Hilfeleisten zur Einreise von unbegleiteten Minderjährigen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren strafbewehrt sein.

Anwendbarkeit auf die zivile Seenotrettung

Durch die Änderung dürften Seenotretter:innen den Straftatbestand des Hilfeleisten zur Einreise nach § 96 Abs. 4, Abs. 1 Nr. 1 b AufenthG erfüllen, indem sie gerettete Personen in einen anderen EU-Staat, wie z.B. Italien ausschiffen. Die Einreise der geretteten Personen verstößt in der Regel gegen italienisches Migrationsrecht, das insofern § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG entspricht[2].  Zudem retten die NGOs in verschiedenen Einsätzen meistens mehr als nur eine Person und handeln demnach wiederholt und zugunsten von mehreren Personen.

In den meisten Fällen dürfte auch die Qualifikation des geänderten § 96 Abs. 4, Abs. 2 S. 2 AufenthG erfüllt sein. Auf den in Seenot befindlichen Booten befinden sich regelmäßig Personen unter 18 Jahren, die ohne ihre Eltern oder sonstige sorgeberechtigten Personen fliehen mussten.

Potentielle Rechtfertigungstatbestände

In einem Klarstellungsschreiben an Bundestagsabgeordnete behauptet das BMI in Reaktion auf einen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung[3], dass es im Rahmen der Seenotrettung an einem für eine Strafbarkeit erforderlichen Vorsatz fehle und die Seenotrettung im Übrigen als gerechtfertigt anzusehen sei, um Gefahren für Leib und Leben abzuwenden.

Die deutliche Positionierung des BMI zur Rechtfertigung ist zwar zu begrüßen, sie entfaltet jedoch keine Rechtswirkung und schafft ebenso wenig die erforderliche Rechtsklarheit. Weder sieht der Vorschlag die Notwendigkeit eines Vorteils vor, noch grenzt er zu humanitärer Tätigkeit ab.

Der aktuelle Vorschlag hätte demnach zur Folge, dass bei jeder Rettungsmission der objektive Tatbestand des § 96 AufenthG erfüllt sein dürfte und die Einleitung von Strafverfahren gegen Seenotretter:innen droht. Damit einher geht die permanente Gefahr von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Telekommunikationsüberwachung, Durchsuchungen oder Beschlagnahmen, gegen Seenotrettungsorganisationen und andere humanitäre Organisationen. Letztendlich obläge es Staatsanwaltschaften, zu entscheiden, ob Anklage erhoben wird. In allen Verfahrensstufen und auch vor Gericht wäre zudem im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB eine Interessenabwägung verlangt, deren Ausgang kaum vorherzusagen ist.

Änderungsbedarf in der Formulierungshilfe und dem Gesetzgebungsvorschlag

Der aktuelle Vorschlag setzt Seenotretter:innen in Deutschland einem erheblichen Strafbarkeitsrisiko aus. Es drohen Ermittlungsmaßnahmen, Anklagen und – sollte eine Interessenabwägung zu ihren Ungunsten ausfallen – Freiheitsstrafen von 3 Monaten bis zu 10 Jahren[4].

Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, im Rahmen des Tatbestands das strafwürdige vom nicht strafwürdigen Verhalten abzugrenzen. Der Verweis auf eine mögliche Rechtfertigung unter vagen Voraussetzungen wird der Garantiefunktion des Strafrechts nicht gerecht.

Um eine Kriminalisierung der Seenotrettung und der humanitären Hilfe rechtssicher zu vermeiden ist – unter Einhaltung völker-, unions- und verfassungsrechtlicher Vorgaben – eine Anpassung des Vorschlages erforderlich.

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Hierzu sollten die folgenden Änderungen des Vorschlages vorgenommen werden:

96 AufenthG sollte generell begrenzt werden auf eine Strafbarkeit von Handlungen unter Erhalt oder Sichversprechenlassen eines Vorteils, entsprechend Art. 3 lit. A Zusatzprotokoll Schleusung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität.

Auf den vorgeschlagenen Verweis des § 96 Abs. 4 auf § 96 Abs. 1 Nr. 1 b AufenthG sollte verzichtet werden.

Der § 96 Abs. 2 Satz 2 sollte nicht auf das uneigennützige Schleusen ausgeweitet werden. Hilfsweise sollte auf den Verweis des § 96 Abs. 4 auf diese Variante verzichtet werden.

Eine humanitäre Klausel nach Art. 1 Abs. 2 Richtlinie 2002/90/EG sollte in §§ 95, 96 AufenthG eingeführt werden.

 

Dieses Kurzgutachten wurde erstellt von Vera Magali Keller und David Werdermann. 

 

[1] Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Fraktionen der SPD, von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungs-gesetz), S. 3, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/Downloads/sonstige-downloads/formulierungshilfen/rueckverbge.pdf

[2] Vgl. BGH, Urteil v. 15. März 2021, 5 StR 627/19, Rn. 19.

[3] Süddeutsche Zeitung, Bundesregierung plant Strafen gegen Seenotretter, 8. November 2023: https://www.sueddeutsche.de/politik/seenotretter-ampel-gesetzentwurf-strafen-schleuser-1.6300208.

[4] So auch David Werdermann, It’s Called Saving Lives: Zur Kriminalisierung von Fluchthilfe, VerfBlog, 2023/11/09, https://verfassungsblog.de/its-called-saving-lives/ und Tanja Podolski, Seenotrettung bald strafbar? Formulierungshilfe des BMI zur Rückführung, 13.11.2023, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bmi-seenotrettung-aenderung-aufenthaltsrecht-strafbarkeit/

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