10 Jahre SOS Humanity

10 Jahre Seenotrettung im zentralen Mittelmeer
Die Zeit seit der Gründung von SOS Humanity war geprägt von wichtigen politischen Entwicklungen und humanitäre Herausforderungen. Wir geben einen Überblick über Ereignisse auf der Fluchtroute zentrales Mittelmeer und wichtige Meilensteine der Seenotrettung von 2015 bis 2025.
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Gründungsjahr2015
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GründerKlaus Vogel
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Überlebende>38.500
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Gerettete Minderjährige>9.000
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Aktive Freiwillige85

Vor der Gründung von Seenotrettungsorganisationen
Bereits seit den 2000er Jahren ist die Fluchtroute zentrales Mittelmeer, die Nordafrika mit Italien und Malta verbindet, ein wichtiger Fluchtweg für Schutzsuchende, die versuchten, Europa zu erreichen. Diese Route umfasste in erster Linie Abfahrten aus Ländern wie Libyen, Tunesien, Algerien und Ägypten.
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Anfang Oktober 2013: Zwei Schiffsbrüche vor Lampedusa
Am 3. Oktober 2013 und am 11. Oktober 2013 ertranken 636 Menschen, als zwei Boote mit Flüchtenden vor der Küste der Insel Lampedusa sanken. Die Bilder von Hunderten von Särgen erschütterten ganz Europa.
18. Oktober 2013: Die italienische Seenotrettungseinsatz „Mare Nostrum“ beginnt
Die italienische Regierung startete die Operation „Mare Nostrum“ für militärische und humanitäre Seenotrettungseinsätze. Für die Operation wurden 700 bis 1.000 Mitarbeitende sowie Schiffe und Luftfahrzeuge bereitgestellt.
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31. Oktober 2014: Italiens Seenotrettungseinsatz „Mare Nostrum“ wird beendet
Nach nur einem Jahr beendete Italien die Seenotrettungen, da die EU und ihre Mitgliedstaaten sich weigerten, die Operation zu unterstützen. Innerhalb eines Jahres hatte „Mare Nostrum“ über 100.000 Menschen aus Seenot gerettet und in Italien an Land gebracht.
Oktober 2014: Gründung der Notruf-Hotline Alarm Phone
Die Alarm Phone Hotline wurde von Aktivist*innen und zivilen Akteur*innen ins Leben gerufen, um Menschen in Seenot entlang der Migrationsrouten, insbesondere im Mittelmeer, rund um die Uhr zu unterstützen.

Niemanden ertrinken lassen
2015 können der deutsche Handelsschiffskapitän Klaus Vogel und einige Gleichgesinnte nicht mehr länger zusendne. Sie gründen eine zivile Seenotrettungsorganisationn. Seitdem ist SOS Humanity mit unterschiedlichen Schiffen auf dem zentralen Mittelmeer im Einsatz.
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18. April 2015: Tödlicher Schiffbruch im zentralen Mittelmeer
Ein großes überbesetztes Fischereischiff kenterte mitten in der Nacht in internationalen Gewässern zwischen Libyen und Italien. Bei dem Schiffbruch kamen über 1.000 Menschen auf der Flucht ums Leben oder gelten seither als vermisst, nur 28 Personen überlebten.
4. Mai 2015: Gründung von SOS Mediterranee Deutschland in Berlin (später SOS Humanity)
Der deutsche Handelsschiffskapitän Klaus Vogel gründete zusammen mit einigen Gleichgesinnten in Berlin SOS Mediterranee Deutschland. Sie konnten der humanitären Katastrophe im Mittelmeer nicht länger tatenlos zusehen. Im Juni 2015 wurde SOS Mediterranee Frankreich gegründet. Im Jahr 2016 wurde das europäische Netzwerk durch die Gründung eines italienischen Vereins und eines Schweizer Vereins 2017 erweitert. Gemeinsam führten sie mit der Aquarius, anfangs das größte Rettungsschiff im Mittelmeer, Rettungseinsätze durch. Die deutsche Gründungsorganisation löste sich Ende 2021 aus dem Verbund und wurde im Januar 2022 in SOS Humanity umbenannt.
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7. März 2016: Erste Rettung des zivilen Schiffs Aquarius
Das mit Spenden finanzierte Rettungsschiff Aquarius fuhr vom deutschen Hafen Sassnitz (Insel Rügen) über Marseille und Lampedusa zu seinem ersten Einsatz im zentralen Mittelmeer. Als Kapitän mit an Bord: Gründer Klaus Vogel. Am Morgen des 7. März 2016 führte die Crew von SOS Mediterranee ihren ersten Rettungseinsatz durch und rettete 74 Menschen von einem seeuntüchtigen Boot vor der libyschen Küste.
März 2016: Seenotretter*innen im zentralen Mittelmeer bedroht
Das von Ärzte ohne Grenzen betriebene Rettungsschiff Bourbon Argos wurde von einem libyschen Schnellboot vor der libyschen Küste beschossen. SOS Mediterranee führte neue Sicherheitsmaßnahmen an Bord der Aquarius ein.
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2. Februar 2017: Gemeinsame Absichtserklärung (MoU) zwischen Italien und Libyen
Die italienische Regierung unterzeichnete mit der libyschen Regierung eine gemeinsame Absichtserklärung über die Zusammenarbeit zur Bekämpfung illegaler Migration, des Menschenhandels und des Schmuggels sowie zur Stärkung der Grenzsicherheit. Italien verpflichtete sich, der sogenannten libyschen Küstenwache Ausrüstung und technologische Unterstützung zur Verfügung zu stellen.
3. Februar 2017: Unterzeichnung der „Malta-Erklärung“ durch Regierungschefs der EU
Mit der „Erklärung von Malta“ beschlossen die EU-Mitgliedstaaten, der von den Vereinten Nationen unterstützten Regierung in Libyen 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Damit sollte unter anderem die Ausbildung und Ausrüstung der sogenannten libyschen Küstenwache finanziert werden – ein Meilenstein in der Auslagerung der Verantwortung für Seenotrettungsmaßnahmen nach Libyen.
Juli 2017: Italien: Verhaltenskodex für Seenotrettungsorganisationen
Italien verabschiedete einen Verhaltenskodex für Seenotrettungsorganisationen, der angeblich die Effizienz von Rettungseinsätzen steigern sollte. In Wirklichkeit behinderte er die Such- und Rettungsaktivitäten und verstieß gegen internationales Völkerrecht. Der Verhaltenskodex verlangte die Anwesenheit bewaffneter Polizist*innen an Bord von NGO-Schiffen und erlaubte Italien, seine Häfen für Schiffe von Organisationen zu schließen, welche die Unterzeichnung weigerten. Dieser Kodex bildete den Auftakt zu einer Reihe von zunehmend restriktiven Maßnahmen, mit denen die Aktivitäten der Seenotrettungs-NGOs behindert werden sollten.
1. August 2017: Beschlagnahmung des Rettungsschiffs Iuventa
Die Besatzung des Rettungsschiffs Iuventa, das von der deutschen Nichtregierungsorganisation Jugend Rettet betriebenen wurde, hatte zwischen 2016 und 2017 über 14.000 Menschen im Mittelmeer gerettet. Die italienischen Behörden beschlagnahmten die Iuventa mit der Begründung, die Crew hätte „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ geleistet. Die Ermittlungen markierten eine neue Stufe der Kriminalisierung von humanitären Seenotrettungsorganisationen und ihren Mitarbeitenden. Das Gerichtsverfahren gegen vier Crewmitglieder, das im Juni 2018 in Trapani auf Sizilien begann, sollte sechs Jahre lang andauern, bis alle Anklagepunkte im April 2024 fallen gelassen wurden.
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Juni 2018: 4 Monate Festsetzung für die Sea-Watch 3 in Malta
Die Sea-Watch 3 wurde in Malta wegen angeblicher Sicherheits- und Registrierungsprobleme festgesetzt, obwohl die niederländischen Behörden bestätigt hatten, dass das Schiff ordnungsgemäß registriert worden war. Das Rettungsschiff wurde fast vier Monate durch die Behörden festgehalten. Sea-Watch verurteilte die Maßnahme als Rechtsverletzung und Behinderung des Rettungseinsatzes. Der Vorfall schuf einen Präzedenzfall für Italien und Malta, die unter dem Vorwand der Sicherheit und der Einhaltung von Vorschriften routinemäßig Rettungsschiffe festhalten sollten.
Juni 2018: Malta schließt Häfen für aus Seenot gerettete Menschen
Die maltesische Regierung gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie die generelle Schließung ihrer Häfen für NGO-Rettungsschiffe ankündigte. Die Schließung von Häfen für Gerettete, sowohl durch Italien als auch durch Malta, löste internationale Kritik aus. Organisationen wie Amnesty International argumentierten, dass solche Maßnahmen den Grundsatz der Seenotrettung untergraben würden. Nach 2018 wurde die Ausschiffung von NGO-Rettungsschiffen in Malta deutlich restriktiver und fand schließlich fast gar nicht mehr statt.
Juni 2018: Italien schließt Häfen für aus Seenot gerettete Menschen
Italiens Innenminister Matteo Salvini erklärte italienische Häfen für NGO-Rettungsschiffe für geschlossen. Nach der Rettung von 629 Menschen, darunter schwangere Frauen und unbegleitete Minderjährige, wurde der Aquarius ein sicherer Ort in Italien und Malta verweigert, was zu einer unhaltbaren Situation an Bord führte. Spanien wies schließlich 36 Stunden später einen Hafen in Valencia zu, der nach einer weiteren Woche auf See erreicht wurde. Die Politik der „geschlossenen Häfen“ Maltas und Italiens führte zu langen Wartezeiten, in denen über sichere Orte verhandelt werden musste.
28. Juni 2018: Einrichtung einer libyschen Seenotrettungsregion (SAR-Region)
Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) erkannte offiziell eine neu geschaffene libysche Seenotrettungsregion an, in der eine libysche Rettungsleitstelle für die Koordinierung der Seenotrettungsmaßnahmen einschließlich der Zuweisung eines sicheren Ortes zuständig war. Die EU unterstützte die Einrichtung einer solchen SAR-Region, um die Verantwortung trotz der dramatischen Menschenrechtslage in Libyen auslagern zu können.
Dezember 2018: Salvini-Dekret I (Sicherheitsdekret I)
Das vom italienischen Innenminister vorgelegte Dekret zielte auf eine Verschärfung der italienischen Einwanderungspolitik ab: Es beinhaltete die Abschaffung des humanitären Schutzes, die Einschränkung der Asylverfahren und die Formalisierung der Politik der „geschlossenen Häfen“.
31. Dezember 2018: Aufgabe des Rettungsschiffs Aquarius
Nach den gezielten Angriffen verschiedener Regierungen und Behörden und wegen des hohen Risikos einer Beschlagnahmung des Rettungsschiffes beendeten SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen den Chartervertrag für die Aquarius nach fast drei Jahren Betrieb und 29.523 geretteten Menschen.
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19. Juni 2019: Salvini erlässt Dekret, um zivile Seenotrettung unter Strafe zu stellen (Salvini-Dekret II)
Die italienische Regierung erließ ein Dekret, das die Rettung von Menschen in Seenot zu einem Straftatbestand machte. Schiffen, die ohne Genehmigung in italienische Hoheitsgewässer einfuhren, drohten Geldstrafen zwischen 10.000 und 50.000 Euro. Die Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen betrachteten das Dekret als Verstoß gegen die Menschenrechte.
29. Juni 2019: Kapitänin Carola Rackete läuft ohne Erlaubnis in den Hafen von Lampedusa ein
Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3, legte ohne Genehmigung in Lampedusa an, nachdem sie am 12. Juni 53 Menschen gerettet hatte. Zuvor wurde ihr 17 Tage lang die Einfahrt in einen Hafen verweigert. Rackete lief schließlich aus Sorge um das Wohlergehen der Überlebenden in den Hafen ein. Sie wurde verhaftet und wegen Befehlsverweigerung und Gefährdung des Schiffes angeklagt. Ihr drohten bis zu 10 Jahre Gefängnis. Am 2. Juli entschied ein italienischer Richter, dass Rackete gehandelt hatte, um Leben zu retten, und ordnete ihre Freilassung an.
August 2019: Zurück auf See mit neuem Schiff Ocean Viking
Nach sechs Monaten nahmen SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen ihre gemeinsame Arbeit mit einem neu gecharterten Schiff namens Ocean Viking, das unter norwegischer Flagge fährt, wieder auf. Das Rettungsschiff wurde umfassend für Seenotrettungseinsätze umgerüstet und mit einer kleinen Bordklinik und Containerschlafräumen ausgestattet.
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Juli 2020: Fünf Monate Festsetzung der Ocean Viking
Das Rettungsschiff Ocean Viking wurde von den italienischen Behörden nach einer 11-stündigen Hafenstaatkontrolle im sizilianischen Hafen von Porto Empedocle festgesetzt. Die Behörden gaben „technische und betriebliche Unregelmäßigkeiten“ als Grund für die Festsetzung an. SOS Mediterranee bezeichnete dies als eine Form der „administrativen Schikane“, die darauf abziele, die Rettungseinsätze der NRO-Schiffe zu behindern.
September 2020: Festsetzung der Sea-Watch 4
Im Anschluss an eine Hafenstaatkontrolle hielten die italienischen Behörden die Sea-Watch 4 fest und begründeten dies unter anderem mit einer übermäßigen Anzahl von Rettungswesten und Unzulänglichkeiten im Abwassersystem. Die Festsetzung wurde im Oktober 2020 nach einer rechtlichen Intervention aufgehoben.
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2. März 2021: Formelle Anklage gegen 21 Mitarbeitende humanitärer NGOs
Im Anschluss an die nach der Beschlagnahmung der Iuventa eingeleiteten Ermittlungen wurden 21 Mitarbeitende von humanitären Nichtregierungsorganisationen, die an Seenotrettungen im Mittelmeer in Italien beteiligt waren, darunter auch Mitglieder der Iuventa-Besatzung, formell angeklagt. Im Falle einer Verurteilung drohten ihnen Haftstrafen von 5-20 Jahren und Geldstrafen von 15.000 Euro für jede gerettete Person.
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1. Januar 2022: SOS Mediterranee Deutschland wird zu SOS Humanity
Nach der Loslösung vom europäischen Netzwerk SOS Mediterranee Ende 2021 setzte der deutsche Gründungsverein seine Arbeit unter dem neuen Namen SOS Humanity fort. Mit dem Einsatz eines neuen Schiffes im Mittelmeer verfolgte SOS Humanity das Ziel, die Rettungskapazitäten zu erweitern und gleichzeitig die Öffentlichkeit besser zu informieren, um Veränderungen in der europäischen Migrationspolitik zu bewirken. Ein weiteres zentrales Anliegen war es, die humanitären Katastrophe zu bezeugen und sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht einzusetzen, sowohl auf See als auch an Land.
Mai 2022: Libysche Küstenwache bedroht Rettungsschiff Sea-Eye 4
Die Besatzung der Sea-Eye 4 berichtete, dass die sogenannte libysche Küstenwache sie mit Warnschüssen und Gewaltandrohungen gezwungen habe „libysches Hoheitsgebiet“ zu verlassen, obwohl sie sich in internationalen Gewässern befanden.27. August 2022: Start des Rettungsschiffs Humanity 1 und erster Rettungseinsatz
SOS Humanity brachte ein neues Rettungsschiff ins zentrale Mittelmeer – die Humanity 1. Zwischen dem 6. und 13. September rettete die Besatzung der Humanity 1 in vier Einsätzen 415 Menschen. Nach zwölf Tagen des Wartens auf die Zuweisung eines sicheren Ortes wurde der Humanity 1 schließlich Taranto in Norditalien zur Ausschiffung zugewiesen. Dort konnten alle Überlebenden nach bis zu 17 Tagen an Bord endlich an Land gehen. Bis zum Jahresende gelang es der Besatzung, 855 Frauen, Männer und Kinder aus Seenot zu retten.
4. November 2022: Neue ultrarechte Regierung Meloni versucht selektive Ausschiffung von Geretteten durchzusetzen
Die neue italienische Regierung versuchte eine so bisher noch nicht genutzte Form der Behinderungspraxis gegenüber den Rettungsschiffen Humanity 1 und Geo Barents im Hafen von Catania. Nur ein Teil der 179 Überlebenden auf der Humanity 1 durfte an Land gehen, nachdem sie zwei Wochen lang in der Nähe von Sizilien auf einen Hafen gewartet hatten. Der Kapitän weigerte sich die Anweisung auszuführen, 35 Männer in internationale Gewässer zurückzubringen, da dies gegen das Völkerrecht verstoßen würde. Nach einem massiven internationalen Medienecho, rechtlicher Unterstützung durch SOS Humanity zur Verteidigung der Rechte der Asylsuchenden und einem kurzen Hungerstreik der verbliebenen Männer durften diese schließlich von Bord gehen.
16. Dezember 2022: Wegweisendes Gerichtsurteil zum Schiffbruch von 2013
Ein Gericht in Rom entschied, dass die italienische Küstenwache und Marine für den Tod von 268 Menschen auf der Flucht verantwortlich war, die bei dem Schiffbruch vom 11. Oktober 2013 ums Leben kamen. Die Richter bestätigten, dass Notrufe auf See sofort entgegengenommen und Rettungsmaßnahmen unverzüglich eingeleitet werden müssen.
Dezember 2022: Praxis der Zuweisung entfernter Häfen ersetzt Politik der geschlossenen Häfen
Anstatt, wie nach internationalem Seerecht vorgesehen, aus Seenot Gerettete so schnell wie möglich in Süditalien an Land gehen zu lassen, begann die italienische Regierung damit, weit entfernte Häfen im Norden und Osten des Landes zuzuweisen – eine unnötige Belastung für die Überlebenden. Außerdem hielt sie die Rettungsschiffe dadurch viele Tage lang aus dem Einsatzgebiet fern. Diese Praxis ersetzte die frühere Behinderungstaktik, bei der teils wochenlang überhaupt kein Hafen zugewiesen wurde, was zu langen und psychisch schwierigen Wartezeiten der Rettungsschiffe auf See führte. Das Rettungsschiff Humanity 1 war das erste, das von dieser neuen Praxis betroffen war, als den 261 Überlebenden an Bord der weit entfernte Hafen von Bari zur Ausschiffung zugewiesen wurde – mehr als 600 Kilometer vom Ort der Rettung entfernt.
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2. Januar 2023: Italien erlässt das „Piantedosi-Dekret“, um Seenotrettung zu behindern
Unter der Leitung des Innenministers Matteo Piantedosi erließ die italienische Regierung ein Dekret, das Verwaltungsvorschriften für Seenotrettungsorganisationen enthielt, von denen einige im Widerspruch zum Völkerrecht standen. Unter anderem sah das Dekret vor, dass Rettungsschiffe nach der ersten durchgeführten Rettung unverzüglich den zugewiesenen Hafen ansteuern und damit das Gebiet verlassen müssen, in dem die meisten Notfälle auftreten. Kapitäne, die diesen Vorschriften nicht nachkamen, mussten mit Festsetzung ihrer Schiffe, Geldstrafen zwischen 10.000€ und 50.000€ und bei wiederholten Verstößen mit der längeren oder sogar dauerhaften Beschlagnahmung von Rettungsschiffen rechnen. Im Februar 2023 wurde das „Piantedosi-Dekret“ in das Gesetz 15/2023 („Piantedosi-Gesetz“) umgewandelt. Seitdem werden in Italien Schiffe von Seenotrettungsorganisationen – oft auf Grundlage falscher Anschuldigungen und unter Missachtung der gesetzlichen Rettungspflicht – festgesetzt.
6. Februar 2023: Gericht entscheidet gegen das italienische Dekret und zugunsten der Überlebenden auf der Humanity 1
Das Gericht in Catania, Sizilien, entschied, dass der Erlass des italienischen interministeriellen Dekrets, das im November 2022 ein Verbot gegen das Rettungsschiff Humanity 1 aussprach, rechtswidrig war. Es habe das Recht auf Rettung (Ausschiffung ist Teil der Rettung ist), sowie den Zugang zum Asylverfahren für Schutzsuchende in diskriminierender Weise behindert.
25.-26. Februar 2023: 94 Menschen sterben bei einem Schiffbruch vor Cutro, Italien
In der Nähe der italienischen Stadt Cutro sank ein Boot mit rund 200 Menschen an Bord bei schlechtem Wetter. Mindestens 94 Menschen starben, darunter 35 Minderjährige. Obwohl die staatlichen Behörden und die EU-Grenzschutzagentur Frontex informiert waren und somit rechtlich verpflichtet waren, Seenotrettungsmaßnahmen einzuleiten, wurde keine Hilfe geleistet.
4. Juni 2023: Über 600 Menschen sterben bei einem Schiffbruch vor Pylos, Griechenland
Bei einem Schiffbruch vor Pylos, Griechenland, kamen mehr als 600 Menschen ums Leben, als ein überfülltes Boot mit etwa 750 Menschen an Bord in griechischen Gewässern kenterte. Trotz der Warnungen am Vortag durch Frontex und die zivile Notfallhotline Alarm Phone, leiteten die griechischen Behörden keine Rettungsmaßnahmen ein. Nur 104 Menschen überlebten. Die Ermittlungen warfen ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Versagens Griechenlands auf, rechtzeitig auf Seenotfälle zu reagieren.
6. Juli 2023: Gemeinsame Abschichtserklärung zwischen EU und Tunesien
Die EU vereinbarte mit Tunesien eine verstärkte Zusammenarbeit in mehreren Bereichen, einschließlich einer EU-Zahlung von 105 Millionen Euro für die Grenzmanagement sowie den Ausbau von Seenotrettungskapazitäten. Das Abkommen und die an Tunesien bereitgestellten Mittel wurden unter anderem vom Europäischen Parlament stark kritisiert.
4. Dezember 2023: Humanity 1 aufgrund falscher Anschuldigungen durch die Behörden festgesetzt
Das Rettungsschiff Humanity 1 von SOS Humanity wurde nach der Ausschiffung von 200 aus Seenot geretteten Menschen für 20 Tage in Crotone, Süditalien, festgehalten. Die Begründungen der italienischen Behörden für diese Blockade stützten sich auf falsche Anschuldigungen der sogenannten libyschen Küstenwache, die SOS Humanity durch seine Dokumentation der Ereignisse auf See widerlegen konnte.
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Februar 2024: Griechenland für den Schiffbruch von Pylos verantwortlich
Ein Frontex-Bericht bestätigte die Verantwortung Griechenlands für den Schiffbruch vor Pylos im Juni 2023, bei dem mehr als 600 Menschen starben. Die griechischen Behörden hatten über mehr als 15 Stunden hinweg keine Rettungsmaßnahmen ergriffen, obwohl sie nach internationalem Recht dazu verpflichtet gewesen wären.
Februar 2024: Abkommen zwischen Italien und Albanien
Am 15. und 22. Februar wurde das Protokoll zwischen Italien und Albanien von beiden Seiten bestätigt. Das Abkommen sah vor, dass aus Seenot Gerettete in das rund 1.000 Kilometer entfernte Albanien gebracht werden, um dort ein beschleunigtes Asylverfahren nach italienischem Recht und unter Haftbedingungen in von Italien errichteten Aufnahmezentren in Albanien zu durchlaufen.
20. Februar 2024: Libyen ist kein sicherer Ort
Der Oberste Gerichtshof Italiens stufte die Übergabe der aus dem Meer geretteten Personen an die sogenannte libysche Küstenwache als Straftat ein. Die Begründung: Libyen kann nicht als sicherer Ort angesehen werden, an dem aus Seenot Gerettete von Bord gehen können.
März 2024: EU-finanziertes libysches Patrouillenboot bedroht Menschen in Not und Crew
Am 2. März konnte die Crew der Humanity 1 trotz des gewaltsamen und rechtswidrigen Eingreifens der sogenannten libyschen Küstenwache insgesamt 77 Menschen aus drei Booten in Seenot retten. Zahlreiche Menschen gerieten ins Wasser, als die bewaffneten Männer eingriffen und ins Wasser schossen. Nach Angaben der Überlebenden ertrank mindestens eine Person, und zahlreiche Menschen wurden zurück nach Libyen gezwungen. Das hierfür eingesetzte Patrouillenboot wurde von der EU finanziert und im Jahr zuvor von Italien an Libyen geliefert.
März 2024: Vier Festsetzungen von Rettungsschiffen
Italien eskalierte die Behinderung nichtstaatlicher Seenotrettungseinsätze mit immer längeren illegalen Festsetzungen von Schiffen. Das Rettungsschiff Humanity 1 wurde für 20 Tage festgehalten, aber nach 14 Tagen auf Einspruch vor Gericht wieder freigelassen. Hintergrund: Die sogenannte libysche Küstenwache hatte mit Waffengewalt in einen Rettungseinsatz eingegriffen. Die ebenfalls festgesetzte Sea-Watch 5 wurde nach 19 Tagen nach einem Eilantrag freigelassen. Die Geo Barents (Ärzte ohne Grenzen) wurde ebenfalls 20 Tage lang festgesetzt. Zum ersten Mal verhängten die Behörden eine 60-tägige Blockade, von der auch das Schiff Sea-Eye 4 betroffen war.
19. April 2024: Italienishces Gericht lässt Angeklagen gegen Seenotretter*innen der Iuventa fallen
Nach sieben Jahren Verfahren wies ein italienisches Gericht in Trapani alle Anklagen gegen die Crew der Iuventa mit der Begründung ab, dass die Beweise unzureichend seien und Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen bestünden. Der Angeklagte Sascha Girke erklärte, dass das Verfahren Teil einer „ öffentlichen Diffamierungskampagne gegen die zivile Seenotrettung“ sei, um das harte Durchgreifen gegen die zivile Rettungsflotte zu legitimieren.
26. Juni 2024: Erfolgreiche Klage – Libysche Akteure als illegitim für Seenotrettungseinsätze eingestuft
Die Klage von SOS Humanity gegen die Festnahme des Rettungsschiffs Humanity 1 am 4. März 2024 war erfolgreich. Das Zivilgericht in Crotone entschied, dass die Festsetzung rechtswidrig war. Das Gericht erklärte außerdem, dass die libysche Rettungsleitstelle und die sogenannte libysche Küstenwache nicht als legitime Seenotrettungsakteure im Mittelmeer angesehen werden können.
Juni 2024: Einrichtung einer tunesische Such- und Rettungsregion
Tunesien richtete mit Unterstützung der EU und Italiens seine eigene Such- und Rettungsregion ein. Kritiker*innen argumentierten, dass dies eine weitere Taktik der EU sei, die europäischen Außengrenzen abzuriegeln. Dabei werde diese über die Rettung von Menschenleben gestellt und Menschenrechte würden durch illegale Rückführungen von Geflüchteten in ein Land verletzt, in dem sie nicht sicher sind.
September 2024: Verschärfung der Behinderung von zivilen Seenotrettungsorganisationen
Italien eskalierte die Festsetzung von Rettungsschiffen. Die Sea-Watch 5 wurde für 20 Tage festgesetzt, die Geo Barents für 60 Tage. Ein italienisches Gericht erklärte die Festsetzung der Geo Barents für rechtswidrig, eine zweite Festsetzung des Schiffes wurde jedoch für 60 Tage fortgesetzt.
September 2024: 10-jähriges Jubiläum der zivilen Notfall-Hotline Alarm Phone.
Alarm Phone feierte 2024 sein 10-jähriges Bestehen mit der Veröffentlichung eines Berichts, der auf ein Jahrzehnt der Unterstützung von Menschen auf der Flucht zurückblickt. Seit seiner Gründung hat Alarm Phone über 8.000 Notrufe aus dem Mittelmeer, dem Atlantik und dem Ärmelkanal dokumentiert.
Oktober 2024: Neue Aufnahmezentren in Albanien
Erstmals wurden zwölf aus dem Meer gerettete Personen auf dem italienischen Militärschiff Libra im Rahmen des Italien-Albanien-Protokolls in Aufnahmezentren in Albanien gebracht. Ein Gericht in Rom entschied, dass die Herkunftsländer der Personen (u. a. Bangladesch und Ägypten) nicht uneingeschränkt als „sicher“ angesehen werden können, und widersprach daher der Inhaftierung der betroffenen Männer. Die Schutzsuchenden wurden von Albanien nach Italien zurückgebracht und unnötig sowie kostspielig rund 2.000 Kilometer hin und her transportiert. SOS Humanity kritisierte, dass das Abkommen zwischen Italien und Albanien gegen internationales Recht verstößt und die Gefahr bestand, dass die Grundrechte von Menschen auf der Flucht weiter ausgehöhlt werden.
November 2024: Das Abkommen zwischen Italien und Albanien wird erneut ausgesetzt
Nachdem sieben weitere aus Seenot gerettete Menschen mit dem italienischen Militärschiff Libra nach Albanien gebracht wurden, setzte ein Gericht in Rom das Urteil über ihre Inhaftierung aus und legte den Fall dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vor – mit der Frage, ob die Herkunftsländer Ägypten und Bangladesch umfassend als „sicher“ eingestuft werden können.
Dezember 2024: Weitere Behinderung der Seenotrettung durch „Flussi-Gesetz“
Die italienische Regierung verabschiedete ein neues Gesetz, das das „Piantedosi-Gesetz“ erweitert, um die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen weiter zu erschweren. Mit dem neuen Gesetz wurde eine neue vorläufige Festnahme von NGO-Schiffen von bis zu 10 Tagen eingeführt und das Risiko einer dauerhaften Beschlagnahmung von Rettungsschiffen bei mehrfachen Gesetzesverstößen erhöht. Darüber hinaus wurden die administrativen Sanktionen auf zivile Aufklärungsflugzeuge ausgedehnt.
13. Dezember 2024: Ärzte ohne Grenzen (MSF) beendet Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer
Aufgrund der restriktiven italienischen Gesetze und Politiken gab Ärzte ohne Grenzen bekannt, dass sie gezwungen sind, die Einsätze des Rettungsschiffs Geo Barents zu beenden. Die Organisation zeigte sich jedoch entschlossen, den Einsatz im zentralen Mittelmeer so bald wie möglich wieder aufzunehmen. Seit Juni 2021 retteten die Seenotretter*innen des Schiffes 12.675 Menschenleben.
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4. März 2025: Wegweisende Stellungnahme des UN-Menschenrechtsausschusses zu Seenotrettungseinsätzen
Auf einen Eilantrag von UpRights, StraLi und SOS Humanity hin, forderte der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen Malta erstmals auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Der Ausschuss forderte Malta auf, dringend einen Seenotrettungseinsatz für 32 Personen zu koordinieren, die in Seenot geraten waren und seit vier Tagen auf der Miskar-Gasplattform ausharrten. Außerdem musste Malta dafür sorgen, dass diese Personen an einem sicheren Ort an Land gebracht werden.