Pressemitteilung: Selektive Ausschiffung
13.08.2024. Am Montagmorgen wurde die Crew des Rettungsschiffes Humanity 1 zu einer Selektion der 270 Geretteten an Bord aufgefordert. In vier teilweise dramatischen Rettungen waren diese am Sonntag im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet worden. Die italienische Küstenwache übernahm 70 von ihnen und brachte sie an Land. SOS Humanity kritisiert, dass die verbliebenen 199 Überlebenden unnötig und gegen geltendes Recht die lange Fahrt nach Genua in der Hitze an Deck auf sich nehmen müssen.
Nur wenige Stunden hatte das Care-Team an Bord der Humanity 1 Zeit, um unter 270 Geretteten 68 Menschen für eine von den italienischen Behörden angeordnete selektive Ausschiffung auszuwählen.
„Wir wurden gezwungen diese Auswahl zu treffen, ohne die nötigen Informationen über die Geretteten zu haben“, kritisiert der ehrenamtlich an Bord arbeitende Arzt Jörg Schmid. „Wegen der Notfallversorgung eines kritisch kranken Patienten am Vortag bis tief in die Nacht hatten wir vor der selektiven Ausschiffung noch nicht einmal Zeit für ein einfaches medizinisches Screening der Überlebenden. Daher war es für unser Care-Team unmöglich, eine ethisch fundierte Auswahl zu treffen.“
Die Geretteten von vier Booten waren auf der Flucht aus Libyen in Seenot geraten. Zwei der Boote hatten gemeinsam aus Libyen abgelegt. „Wir wissen nicht, wie viele Verwandte und Freund*innen heute möglicherweise getrennt wurden, weil wir ihre Familienkonstellationen nicht kannten. Nachdem wir eine Ausschiffungsliste für die italienischen Behörden erstellt hatten, haben mich Dutzende Menschen angefleht, gemeinsam mit ihren Angehörigen ausgeschifft werden zu können. Uns waren durch die Anordnung und Begrenzung auf 68 Menschen die Hände gebunden. Das war extrem frustrierend und verursachte Verunsicherung und Angst bei den ohnehin belasteten Geretteten.“
Nach vier Rettungen am vergangenen Sonntag, bei denen insgesamt 273 Menschen aus Seenot an Bord des Rettungsschiffes Humanity 1 genommen worden waren, musste am späten Abend eine Person als medizinischer Notfall evakuiert werden, gemeinsam mit zwei Angehörigen. “Die zuständigen Behörden verzögerten die Evakuierung des Patienten dabei um Stunden, obwohl der Patient dringend intensivmedizinische Versorgung benötigte”, so der Arzt Jörg Schmid. Nach dem Transfer an die italienische Küstenwache am Montag muss die Crew für die an Bord verbleibenden Menschen weiterhin den am Sonntag zugewiesenen, weit entfernten Hafen von Genua anfahren – über 1.200 Kilometer Strecke vom Ort der Rettungen, über vier Tage Fahrt.
Italien und Malta schieben Verantwortlichkeit hin und her
Die am Sonntagabend evakuierte Person war nach ihrer Rettung an Bord der Humanity 1 bewusstlos geworden. Nach der ersten Stabilisierung des Patienten durch das medizinische Team, musste bereits gegen 17:30 Uhr CEST eine Notevakuierung angefragt werden. Bordarzt Jörg Schmid: “Obwohl die kritische Situation des Patienten mit beginnendem Multiorganversagen und die Notwendigkeit einer sofortigen Evakuierung durch das International Medical Radio Centre Rome (C.I.R.M) bestätigt wurde, dauerte es Stunden, bis die zuständigen Rettungsleitstellen Hilfe losschickten.”
Zunächst versuchten die Rettungsleitstellen Italiens und Maltas, sich die Verantwortung gegenseitig zuzuschieben und hielten dabei die Besatzung der Humanity 1 im Unklaren. Erst auf deren anhaltenden Druck konnte die Evakuierung durch ein Schiff der italienischen Küstenwache gegen 23:00 Uhr CEST erreicht werden.
Am Montagmorgen ordneten die Behörden dann die selektive Ausschiffung von einer kleineren Zahl Geretteter nach Lampedusa an. Anfragen des Kapitäns, alle 270 Überlebenden in Lampedusa auszuschiffen oder einen näheren Hafen zugewiesen zu bekommen, blieben erfolglos. Am Montag gegen 11:30 Uhr CEST wurden 70 Personen an die italienische Küstenwache übergeben und nach Lampedusa gebracht.
SOS Humanity fordert Einhaltung internationaler See- und Menschenrechte
Die politische Sprecherin von SOS Humanity, Mirka Schäfer, ist aktuell als Menschenrechtsbeobachterin an Bord der Humanity 1.„200 aus Seenot Gerettete müssen weiter an Bord der Humanity 1 ausharren, weil die italienischen Behörden ihnen eine schnelle Ankunft an Land völkerrechtswidrig verweigert“, kritisiert Schäfer. „Es ist erschreckend zu erleben, wie die Not von Menschen auf See dadurch künstlich verlängert wird. Es ist aktuell extrem heiß im zentralen Mittelmeer und die Überlebenden leiden unter der Sommerhitze. Viele der Geretteten kamen geschwächt und dehydriert an Bord und einige zeigen Zeichen physischer Gewalt. Die mehr als viertägige Fahrt zum zugewiesenen Hafen Genua verzögert die dringend benötigte medizinischen und psychologische Versorgung für diese Menschen an Land. SOS Humanity fordert ein Ende der unmenschlichen und rechtswidrigen Praxis der Zuweisung weit entfernter Häfen, durch welche die Grundrechte der Überlebenden verletzt und zivile Rettungsschiffe vom Einsatzgebiet ferngehalten werden.“
Lesen zu diesem Thema auch unseren kürzlich erschienenen Bericht „Menschlichkeit über Bord“ mit Analysen, Umfragen an Bord der Humanity 1 und zahlreichen Daten und Fakten rund um die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer.
Kontaktieren Sie bitte Petra Krischok: presse@sos-humanity.org, +49 (0)176 55250654.
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