„Es war pures Glück“: Kommunikationskoordinator Sasha über den Einsatz an Bord
Sasha war im Sommer 2023 als Koordinator für Kommunikation bei der sechsten Rotation an Bord der Humanity 1. Nach dem Einsatz schildert er die erschwerte Suche nach Booten in Seenot und den lebensbedrohlichen Unwetter auf dem Mittelmeer.
Auf dem Mittelmeer kommen Sturmböen urplötzlich. Wir waren gerade dabei, Überlebende von einem überbesetzten, seeuntüchtigen Metallboot zu unserem Rettungsschiff Humanity 1 zu bringen– während der zweiten von insgesamt neun Rettungsaktionen dieses Einsatzes. Zwei Überlebende aus der ersten Rettung waren kurz zuvor erfolgreich aufgrund ihres kritischen Gesundheitszustandes notevakuiert worden. Alles lief gut. Doch dann kam die Sturmfront: Rasende Winde der Windstärke 10 (Windstärke 12 wäre ein Orkan) und Wellen, die so heftig gegen unser Schiff schlugen, dass wir gezwungen waren, zu unserer eigenen Sicherheit den Kurs zu ändern.
Oben auf der Brücke, auf der es nach Sonnenuntergang immer stockdunkel bleibt, um die Ausschau zu erleichtern, war unser Kapitän Josh erleichtert, dass wir gerade noch rechtzeitig gekommen waren: „Jeder, der jetzt noch auf einem solchen Boot bei diesem Wetter hier draußen ist, ist tot.“
Doch ausnahmsweise hatte er Unrecht.
Oft erreichen Notfälle die Brücke von Humanity 1 über Funk oder per E-Mail, viele gemeldet von anderen Nichtregierungsorganisationen wie die Notfall-Hotline von Alarm Phone oder Pilotes Volontaires. Doch dieses Mal war es Josh, der nur wenige Minuten später ein unregelmäßig blinkendes Licht am Horizont erblickte. Mit Hilfe eines Scheinwerfers wurde aus dem näherkommenden Licht schnell eine Gestalt und aus der Gestalt eine Menschentraube.
Wir hatten keinerlei Informationen über diesen Notfall erhalten. Es war pures Glück, dass wir unseren Kurs geändert hatten und sie entdecken konnten. Sofort ordnete Kapitän Josh an, unsere beiden Schnellboote Bravo und Tango wieder auf die aufgewühlte See zu setzen.
Die Menschen an Bord befanden sich in völlig verständlicher Panik, einer Panik, die nur allzu leicht tödlich enden kann.
Viele der Menschen, die aus Tunesien fliehen, stammen ursprünglich aus afrikanischen Ländern, in denen Französisch gesprochen wird. Als einer der Französisch sprechenden Crewmitglieder an Bord wurde ich angewiesen, sie lauthals aufzufordern, ruhig zu bleiben und sich hinzusetzen, während unsere Schnellboote sich ihren Weg durch den Sturm bahnten.
Daraufhin beobachtete ich das Schiff durch eine Infrarotkamera und versuchte, die Anzahl der Personen im Boot zu zählen. Ich musste mit ansehen, wie es sich bedrohlich auf eine Seite neigte mit kaum mehr als einer Handbreit Metall über dem Meeresspiegel. Als unser Rettungsteam auf den Schnellbooten nahe genug war, um die Situation zu beurteilen und zu bestätigen, dass das Boot Wasser zu ziehen begonnen hatte, kam ein einziger Satz über Funk: „Wir haben ein Baby!“ In diesem Moment blieb mein Herz stehen.
Das Rettungsteam begann, alle 39 Menschen an Bord des bedrohlich in den Wellen hin- und hergeworfenen Bootes zur Humanity 1 zu bringen, das einjährige Baby zuerst. Glücklicherweise ließ der Wind etwas nach, und ich sah über Infrarot, wie Rocco, unser Such- und Rettungskoordinator, erleichtert die Fäuste ballte, als die letzte Person kopfüber auf das Schnellboot gezogen worden war. Zurück auf dem Mutterschiff lagen mehrere Crewmitglieder an Deck, erschöpft und unter Schock – aber ihr Zustand war nichts im Vergleich zu denen, die sie gerettet hatten.
Ich wurde an Deck gerufen, um beim Übersetzen zu helfen. Die erste Person, mit der ich sprach, war eine Frau aus der Elfenbeinküste. Sie war körperlich nicht in der Lage, aufzustehen. Sie berichtete mir, wie sie in Tunesien mit Eisenstangen auf ihre Hüften und Beine geschlagen worden war. In ihren Armen lag, mit großen Augen, die ruhigste – und jüngste – Person an Bord der Humanity 1.
Innerhalb nur weniger Stunden war die See wieder ruhig. Sturmböen lösen sich so schnell auf, wie sie kommen.
Am frühen Morgen tauchten zwei weitere Boote in Seenot am Horizont auf und wir konnten alle Menschen darauf retten. Mit fast 200 Überlebenden an Bord begannen wir die 1.300 km lange Überfahrt zum Hafen von Ortona, dem von der italienischen Regierung zugewiesenen sicheren Ort. Diese Praxis, zivilen Rettungsschiffen unnötig weit entfernte Häfen zuzuweisen, verstößt gegen internationales Recht. Sie ist besonders grausam für die Überlebenden, die gezwungen sind, mehrere Tage auf dem überfüllten Deck in Sichtweite der europäischen Küste zu verbringen, bevor sie von Bord gehen und erst dann die dringend benötigte Versorgung an Land erhalten können.
Während dieser Tage erzählten mir viele der Geretteten von ihren Erlebnissen. Sie berichteten von schockierenden Erfahrungen mit Gewalt, Diskriminierung und moderner Sklaverei in Tunesien. Viele trugen körperliche und psychische Narben davon. Eine andere ivorische Frau war zusammen mit ihrer vierjährigen Tochter in dem Sturm gerettet worden. Sie beschrieb die Rettung ähnlich wie unser Kapitän, nur aus der anderen Perspektive:
Als wir uns dem Hafen von Ortona näherten, begannen die ivorischen Frauen euphorisch zu singen und zu tanzen. Sie sangen Gospellieder, die das Leben nach dem Tod feierten. Andere Überlebende saßen schweigend da und starrten auf das Mittelmeer. Aus den Gesprächen der letzten Tage wussten wir, dass viele von ihnen besorgt waren über das, was sie in Europa erwartete. Die Erlebnisse unserer Crew, die Emotionen, die harte Arbeit und die schlaflosen Nächte, waren schließlich nur ein kleiner Teil ihres Weges, einem langen Weg, der noch weitergehen würde, nachdem sie endlich europäischen Boden betreten hatten.