Bittersüße Momente: RHIB-Fahrerin Lotte berichtet von Bord
Ich war im Mai 2023 an Bord der Humanity 1 als RHIB-Fahrerin. Das sind die schnellen Einsatzboote (Rigid Hull Inflatable Boat), die sich dem Seenotfall nähern und die Rettung durchführen. Ich bin seit 7 Jahren in diesem Bereich tätig und habe in der Ägäis und im zentralen Mittelmeer gearbeitet .
Als wir mit der Humanity 1 von Sizilien aus nach Süden, in Richtung des Such- und Rettungsgebiets fuhren, wurden wir über den Seenotfall eines Holzbootes mit ca. 100 Menschen an Bord weit im Osten des zentralen Mittelmeeres informiert, den wir in drei bis vier Tagen erreichen würden. Auf dem Weg dorthin hatten wir mit vier Meter hohen Wellen zu kämpfen und beteten, dass das Boot in Seenot günstigeren Wind hatte.
Gegen fünf Uhr morgens werden wir geweckt, draußen ist es noch dunkel. Schnell ist die ganze Crew wach, und alle bereiten sich auf die Rettung vor. Das Rettungsteam zieht seine Ausrüstung an (wasserdichte Kleidung, Helm und Rettungsweste) und macht sich bereit, die beiden Schnellboote zu Wasser zu lassen. Die Besatzung ist aufgeregt, keiner weiß, was auf uns zukommt. Gleichzeitig sind alle erleichtert, dass wir nach vielen Stunden Fahrt endlich vor Ort sind. Als wir uns dem Boot nähern, nimmt der Kulturvermittler Kontakt auf. Er erklärt den Menschen, wer wir sind, um sie zu beruhigen. Die drei Worte “Nie wieder Libyen” haben hierbei die größte Kraft, um Ruhe Vertrauen zu schaffen.
Das Boot ist ein mittelgroßes Holzboot, das wie ein altes Fischerboot aussieht, mit 88 Menschen an Bord. Keiner von ihnen trägt eine Rettungsweste. Die Sonne geht auf während die beiden Schnellboote abwechselnd einen Teil der Menschen auf das Mutterschiff Humanity 1 bringen. Nach einer Stunde ist die Rettung abgeschlossen.
Die Menschen erzählen, dass sie seit etwa zwei Tagen auf See waren und viele von ihnen unter schwerer Seekrankheit litten. Sie berichten, dass ein anderes Boot mit ihnen von der libyschen Küste abgefahren war, sie es aber nach den ersten 24 Stunden aus den Augen verloren. An Bord sagen die Überlebenden nun: „Wir werden warten“. Sie möchten, dass wir nach dem anderen Boot suchen. Ein Boot mit Menschen, die sie nicht kannten, von denen sie aber wussten, dass sie sich in der gleichen verzweifelten Situation befanden wie sie selbst. Später hören wir Berichte, dass sie von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgebracht worden waren.
Menschen, die die gefährliche Überfahrt von der libyschen oder tunesischen Küste aus wagen, sind in diesen Ländern schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Sie sind Opfer von Folter, sexueller Gewalt, willkürlicher Inhaftierung und vielem mehr. Umso krasser empfand ich den Gegensatz zwischen dem Terror, den die Menschen an Bord gerade in Libyen erlebt hatten und der Menschlichkeit gegenüber ihren Mitmenschen, die sie auf unserem Schiff zeigten. Ich dachte an die Politiker in Europa, denen es mit ihrer grausamen Politik gegenüber Flüchtlingen so sehr an Menschlichkeit mangelt.
Ich glaube, während einer solchen Rettung aus Seenot sieht man die Menschen in ihrem verletzlichsten Zustand. Es ist auch für die Crew eine sehr stressige, emotionale Zeit, in der die volle Konzentration gefordert ist. Im Bruchteil einer Sekunde müssen Entscheidungen getroffen werden, und dabei muss man ruhig bleiben. Bei der zweiten Rettung war das Boot in Seenot bereits seit drei Tagen auf dem Meer. Es war eines der kleinsten seeuntüchtigen Boote, die ich je gesehen habe, völlig überbesetzt mit etwa 30 Personen, darunter ein kleines Baby
Als wir die Hälfte der Menschen an Bord des Schnellboots brachten, setzte sich ein junger Mann mit Hut neben mich. Zum Dank zog er seinen Hut und lächelte breit. Dieser Moment wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Sein Ausdruck zeigte die schiere Erleichterung und Dankbarkeit, nachdem er große Angst durchgestanden hatte.
Sobald die Überlebenden an Bord der Humanity 1 waren, schliefen die sie fast den ganzen Tag und auch den nächsten, so erschöpft waren sie. In den darauffolgenden Tagen wurden die Menschen medizinisch und psychologisch betreut, viele zum ersten Mal seit Jahren, für mich unvorstellbar.
Es dauerte dreieinhalb Tage Fahrt auf der Humanity 1, um Livorno (Norditalien) zu erreichen, dem uns zugewiesenen sicheren Hafen. Es ist eine weitere grausame Politik Italiens, zivile Rettungsschiffe weit nach Norden zu schicken. Hiermit soll die Zeit verlängert, in der sie sich außerhalb des Rettungsgebiets befinden.
Nachdem sich die Leute ausgeruht hatten, beschlossen ein Kollege und ich eine Sporteinheit zu organisieren. Es war ein magischer Moment, in der die Geretteten zusammenkamen und einige andere zusahen, wie wir Liegestütze und Sternsprünge machten (was viele Leute lustig fanden). Es fühlte sich für viele wie ein Augenblick der Normalität an, in dem sie an sich selbst arbeiten konnten und wieder die Autonomie über ihren Körper hatten. Sie konnten sich auf ihr körperliches Wohl konzentrieren ohne Angst um ihre Sicherheit. Die Menschen wetteiferten miteinander und ermutigten sich gegenseitig. Wir machten sogar Klimmzüge auf einem der langen Balken, die über einem der Schiffsdecks hängen. Ich war sehr froh, dass sie von meinem armseligen Versuch eines einzigen Liegestützes beeindruckt schienen!
Die Abende fühlten sich oft sehr friedlich an. Während der Essensausgabe legte ein Überlebender, der während der Mahlzeiten zum DJ wurde, immer eritreische Bands auf, zu denen die Leute tanzen konnten. Es war eine große Freude, zu sehen, wie die Menschen zusammenkamen und tanzten oder versuchten, uns ihre Rhythmen beizubringen. Nach dem Essen ging die Sonne langsam unter, und einige spielten Karten, andere unterhielten sich, wieder andere saßen still da und beobachteten das Meer.
Ich hatte auch eine meiner Deckswachen von 03:00-06:00 Uhr, was eine schöne Zeit war, nachdem man sich an den wenigen Schlaf gewöhnt hatte. Man sah den Sonnenaufgang, und langsam wachten die Leute auf, holten sich einen Tee und setzten sich zu dir auf einen Hocker. Es war ein friedlicher, gemeinsamer Moment, ohne viele Worte.
Ein glücklicher Moment, weil so viele Menschen, die sich für Sicherheit in große Gefahr begeben haben, nun angekommen sind. Aber irgendwie ist man auch besorgt, weil man weiß, welche Schwierigkeiten sie noch vor sich haben. Ich hoffe, dass es uns in der kurzen Zeit auf dem Schiff, gelungen ist, ihnen ein paar Tage des gegenseitigen Respekts, der Fürsorge und der Freundlichkeit zu bieten, bevor sie ihren nächsten Abschnitt der Reise antreten.
Ich empfinde es als ein Privileg, in diesem Bereich zu arbeiten, umgeben von Menschen, die an die Menschlichkeit glauben und unermüdlich für sie kämpfen.