„Unser Ziel als Zivilgesellschaft ist es, die Barriere einzureißen, die die Seenotrettung verhindert.“
Das Zivilgericht in Crotone, Italien, hat im April 2024 bestätigt, dass die Eilentscheidung zur vorzeitigen Freilassung des zivilen Rettungsschiffs Humanity 1 rechtmäßig ist. Der Richter urteilte, dass die Crew des Rettungsschiffs Humanity 1 im Einklang mit dem geltenden Recht Leben gerettet hat, während die sogenannte libysche Küstenwache diese gefährdete. Warum diese Gerichtsentscheidung bereits vor dem abschließenden Urteil zur Festsetzung, das noch aussteht, wegweisend ist, erklärt die Anwältin von SOS Humanity, Giulia Crescini, im Interview.
Die Humanity 1 wurde im März 2024 festgesetzt. Worauf gründeten sich die Anschuldigungen?
Die Humanity 1 wurde in Verwaltungshaft genommen, weil sie angeblich Flüchtende gefährdet und die Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache und der libyschen Rettungsleitstelle nicht befolgt haben soll.
Warum war die Festnahme des Rettungsschiffs Humanity 1 nach der vorläufigen Einschätzung des Richters nicht rechtmäßig und warum wurde das Schiff sofort freigelassen, damit es seine Rettungseinsätze wieder aufnehmen konnte?
Die Humanity 1 hat versucht, die Anweisungen der libyschen Rettungsleitstelle und sogenannten libyschen Küstenwache zu befolgen – aber diese sind entweder unvollständig, nicht vorhanden oder völlig unvernünftig. Dennoch verlangt die italienische Rettungsleitstelle die Einhaltung dieser meist nicht vorhandenen Anweisungen. Selbst wenn es Anweisungen gegeben hätte, wäre ein Rettungsschiff nicht verpflichtet, diese zu befolgen, denn die Humanity 1 kann keine Befehle einer Behörde befolgen, die zur Übergabe an libysche Patrouillenboote und zur Zurückweisung von nach Libyen führen würde.
Konkret hatte die Crew der Humanity 1 bereits die Rettung begonnen als die sogenannte libysche Küstenwache eingriff und die Humanity 1 aufforderte, die Rettung abzubrechen. Es ist klar, dass die Pflicht zur Rettung ein vorrangiges völkerrechtliches Prinzip ist und dass alle Schiffe das Leben auf See schützen müssen. Es ist daher unmöglich vom Kapitän der Humanity 1 ein anderes Verhalten zu verlangen. Die sogenannte libysche Küstenwache eröffnete daraufhin das Feuer und brachte die Flüchtenden in Gefahr.
In unserer Klage gegen die Festsetzung der Humanity 1 haben wir auf das gewalttätige Verhalten der sogenannten libyschen Küstenwache hingewiesen, die sich eher wie „Piraten“ als eine staatliche Behörde verhielt. Zweitens: Der Kapitän der Humanity 1 hat sich an die Anweisungen gehalten, soweit das möglich war. Aber drittens: Die Humanity 1 wird sich nicht an die Anweisungen einer Behörde halten, die Menschen auf der Flucht auf Patrouillenboote bringt, um sie zurück in libysche Häfen zu zwingen. Libyen ist kein sicheres Land, wie das Urteil des italienischen Obersten Gerichtshofs gegen den Kapitän der Asso 28 zeigt, der wegen der Rückführung von Flüchtenden nach Libyen verurteilt wurde. Menschen, die aus Libyen fliehen und internationalen Schutz suchen, können nicht nach Libyen zurückgeschickt werden, weil sie dort einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären.
Kannst du beschreiben, wie wichtig die Entscheidung des Richters für die Sicherung der humanitären Arbeit im zentralen Mittelmeer ist?
Der Richter gibt einige sehr klare und wichtige Hinweise auf die Grenzen der Aktivitäten der sogenannten libyschen Küstenwache und damit auf ihre Koordination von Rettungen. Sollte diese Auslegung in großem Umfang bestätigt werden, wird die Justiz endlich deutlich machen, dass von zivilen Schiffen nicht mehr verlangt werden kann, mit Libyen im Bereich Seenotrettung zu kooperieren oder so zu tun, als sei Libyen vertrauenswürdig im internationalen Kontext.
Warum ist es wichtig, dass das Gericht die Aktivitäten der libyschen Rettungsleitstelle und der sogenannten libyschen Küstenwache nicht als Seenotrettung eingestuft hat, sondern als illegale Rückführungen in ein Land, das kein sicherer Ort ist?
Der Richter stimmte unserer Beschwerde über die Rolle Libyens im Bereich der Seenotrettung (SAR) zu. An einem SAR-Einsatz sind Küstenstaaten beteiligt, die sicherstellen müssen, dass die Einsätze mit der Ausschiffung in einem sicheren Land enden, was Libyen nicht ist.
Das gilt umso mehr, wenn man sich das Verhalten der sogenannten libyschen Küstenwache ansieht. An Bord der Humanity 1 haben wir das zunehmend gewalttätige Verhalten der sogenannten libyschen Küstenwache erlebt (u.a. gefährliche Manöver, Schläge, Auspeitschen usw.), aber heute sprechen wir über eine sogenannte libysche Küstenwache, die in der Nähe von Flüchtenden ins Wasser schießt und auch internationale Retter*innen in Lebensgefahr bringt.
Wir sehen, dass es sich nicht um Rettungen handelt, sondern um Abfang- und Rückführungsaktionen nach Libyen. Italien würde gerne alle Menschen, die aus Libyen fliehen, zurückschicken, aber da es vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2012 dafür verurteilt wurde, sie zurückzudrängen, hat Italien die Zuständigkeit an eine andere Stelle delegiert. Seit 2017 bezahlt Italien Libyen und überträgt diesem Staat die Befugnis, Menschen auf der Flucht abzufangen und nach Libyen zurückzubringen. Italien ermöglicht die Rückführungen nicht nur durch politische Unterstützung, sondern auch durch handfeste materielle Hilfe. Italien will Menschen auf der Flucht zurückweisen, was durch das Non-Refoulement-Prinzip laut Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verboten ist.
Wird sich diese Entscheidung auf die Praktiken der NGOs im zentralen Mittelmeerraum auswirken? Bedeutet sie, dass NGO-Schiffe nun rechtlich gesehen nicht mehr den Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache folgen müssen?
Leider noch nicht. Je mehr Urteile es gibt, desto mehr wird natürlich gegen rechtswidriges Verhalten im zentralen Mittelmeer vorgegangen. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Italien, dass Libyen kein sicheres Land ist, weil Flüchtlinge dort unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind, war sehr wichtig. Wenn es mehrere identische Urteile gibt, kann man nachweisen, dass die italienische Regierung NGOs schikaniert und geltendes Recht falsch auslegt.
In diesem Fall handelt es sich allerdings um ein vorläufiges Urteil. Die eigentliche Bedeutung dieses Kampfes, der nicht nur verfahrenstechnisch ist, liegt in der Fähigkeit der Zivilgesellschaft, das Verhalten der öffentlichen Verwaltung zu ändern.
Gibt es nach diesem Urteil die Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit des „Piantedosi-Gesetzes“ vor dem Verfassungsgericht anzufechten?
Das ist nicht automatisch der Fall. Anwält*innen können eine Klage gegen eine Festsetzung vor Gericht einreichen, aber sie können Richter*innen nicht zwingen zu prüfen, ob das Gesetz selbst verfassungsgemäß ist. Es kann sein, dass ein*e Richter*in beschließt, den Einwand der Verfassungsmäßigkeit nicht zu erheben oder aber ihn zu erheben. Aber je mehr Urteile es gibt, desto mehr fühlen sich die Richter*innen dazu veranlasst, konform zu entscheiden.
In letzter Zeit gab es verschiedene andere Urteile zu Gunsten von ziviler Seenotrettung. Welches Signal wird damit an die italienischen Behörden gesendet, die die politische Agenda der Meloni-Regierung umsetzen, indem sie die zivile Seenotrettung behindern?
In verschiedenen Teilen Italiens wird dieselbe Angelegenheit auf dieselbe Art und Weise interpretiert: Richter*innen senden positive Signale, indem sie die korrekte Auslegung des Gesetzes in Frage stellen. Dieses Urteil ist eine vorläufige Entscheidung, könnte aber auch von anderen NGOs genutzt werden.
Das allgemeine Signal des Staates bleibt jedoch negativ: Die italienischen Behörden versuchen, die Menschen zu demoralisieren, zu blockieren, fliehende Menschen zurück nach Libyen und Tunesien zu schicken und die NGOs dazu zu bringen, hohe Gerichtskosten zu zahlen. Aber die italienische Regierung ist zum ersten Mal seit 2017 mit einer Reihe von Richter*innen konfrontiert, die sich wieder in eine Debatte einmischen, die völlig politisiert war. Unser Ziel als Zivilgesellschaft ist es, die Barriere einzureißen, die die Seenotrettung verhindert.