Interview mit Women in Exile – eine Initiative von Flüchtlingsfrauen

Women in Exile

Wenn Menschen auf der Flucht Thema sind, wird viel zu oft über sie gesprochen und leider nur in Ausnahmefällen mit ihnen. Deshalb freuen wir uns sehr, dass Women in Exile sich die Zeit genommen haben, einige Fragen für uns zu beantworten. 

Seit über 20 Jahren setzt sich die Initiative von und für Flüchtlingsfrauen für die Rechte von Frauen und Mädchen auf der Flucht ein. Einen Einblick in die Arbeit von Women in Exile samt einer kritischen Auseinandersetzung mit diskriminierenden Systemen erhaltet ihr in diesem Interview.

Was tut ihr in eurem Netzwerk? Wofür setzt ihr euch ein?

„Women in Exile ist eine Initiative, die 2002 in Brandenburg von Flüchtlingsfrauen für Flüchtlingsfrauen gegründet wurde, um für ihre Rechte zu kämpfen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir doppelt diskriminiert werden, nicht nur durch die rassistischen und diskriminierenden geltenden Flüchtlingsgesetze, sondern auch als Frauen. Daher haben wir uns entschieden, uns als Flüchtlingsfrauengruppe zu organisieren.

2011 gründeten Women in Exile und solidarische Aktivist*innen ohne Fluchthintergrund Women in Exile and Friends. In unserem Kampf fokussieren wir uns auf die Abschaffung aller Gesetze, die Asylsuchende und MigrantInnen diskriminieren und auf die Zusammenhänge von Rassismus und Sexismus. Gemeinsam entwickeln wir Strategien, um einen politischen Wandel zu erreichen und tragen unseren Protest gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen von Flüchtlingsfrauen in die Öffentlichkeit.

Unser fundamentales politisches Ziel ist die Utopie einer gerechten Gesellschaft ohne Ausgrenzung und Diskriminierung, mit gleichen Rechten für alle, unabhängig davon, woher sie kommen und wohin sie gehen. Wir verstehen uns als Brücke zwischen der Flüchtlings- und der feministischen Bewegung. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Frauen ungeachtet aller Unterschiede wie Alter, Herkunft, Religion, Status, sexueller Orientierung oder anderer Faktoren miteinander in Beziehung treten und gemeinsam etwas bewirken können.“

Einige eurer Mitglieder haben die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa überlebt. Warum sehen sich so viele Menschen gezwungen, diesen riskanten Fluchtweg einzuschlagen?

„Viele Menschen sind gezwungen, die Flucht über gefährliche Routen zu riskieren, weil ihre Bewegungsfreiheit durch Grenzschutzbeamte, Kontrollen und hohe Drahtzäune behindert wird. Das ist nichts Neues. Die Geschichte wiederholt sich. Europäer sind Experten darin, in Afrika Grenzen zu ziehen. Während der Berliner Konferenz 1884-85 teilten die Kolonialmächte Afrika unter sich auf. Bis heute profitieren Unternehmen und Einzelpersonen von dem Elend, das sie geschaffen haben und weiterhin schaffen.

Solange Menschen Grenzen nicht frei überschreiten können und diese Grenzen von Kräften kontrolliert werden, die von der Europäischen Union oder europäischen Truppen subventioniert und militarisiert werden, werden Menschen aus dem globalen Süden ihr Leben riskieren, um sie zu überschreiten – im Gegensatz zu Menschen aus dem globalen Norden, die das Privileg haben, sie frei zu überschreiten.“

In Bezug auf die Regionen südlich der Sahara: Gibt es besondere Gründe, die Frauen zur Flucht veranlassen? Wenn ja, welche sind das und inwieweit sind besonders Frauen davon betroffen?

„Der moderne Kolonialismus, die Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen wie Mineralien und die kommerzielle Bewirtschaftung unseres Landes durch multinationale Unternehmen sind Katalysatoren für Klimaveränderungen, die zu langanhaltenden Dürren führen.

Billige Arbeitskräfte und die westlichen Märkte bestimmen die Tauschwährung auf unseren Märkten. Im Tausch gegen unsere natürlichen Reichtümer erhalten wir Armut für die Mehrheit der Menschen in unseren Gesellschaften. Nur eine postkoloniale Elite profitiert von der Gewinnung und Ausbeutung und wird reicher. Hinzu kommt, dass Waffen verbreitet werden und Konflikte zu militärischen Auseinandersetzungen oder sogar Bürgerkriegen anheizen. Und die europäische Unterstützung für korrupte Führer destabilisiert unsere Nationen. Frauen tragen die schwerste Bürde, weil sie allein gelassen werden mit der Verantwortung für das Wohlergehen der ganzen Familie.

Dies sind einige der Gründe, die uns dazu veranlassen, unsere Länder zu verlassen, um all diesen Katastrophen zu entkommen. Anstatt eine vielversprechende Zukunft zu finden, sind jedoch Rassismus, Abschiebung und Isolation unser Schicksal.“

Libyen gilt als ein besonders gefährlicher Ort für Menschen, die Zuflucht suchen. Die uns zugetragenen Berichte beschreiben willkürliche Ausbeutung und Gewalt, die für uns unvorstellbar ist, insbesondere sexualisierter Missbrauch. Gleichzeitig sehen wir eine beeindruckende Widerstandsfähigkeit der Frauen an Bord unseres Schiffes. Wie können Menschen mit Gewalterfahrungen umgehen und die Kraft finden, die Hoffnung nicht aufzugeben?

„Die Europäische Union subventioniert diese Zustände durch die Zusammenarbeit mit Libyen. Dies ist ein weiteres Beispiel für die tödlichen Folgen der Festung Europa. Von diesem Elend und diesen Erfahrungen profitieren einige Unternehmen und Einzelpersonen.

Flüchtlingsfrauen unserer Gruppe, die über das Mittelmeer und Italien gekommen sind, beschreiben, wie sie sexualisierten Missbrauch und Ausbeutung ertragen mussten. Es ist nicht leicht für die Frauen, all dies zu überwinden, denn nach ihrer Ankunft am Zielort werden sie in Lagern untergebracht. Hier erleben sie die gleiche Situation oder leben weiter in der Angst, das gleiche Schicksal zu erleiden. Die Lager sind kein Ort der Heilung, sondern der Retraumatisierung.

Ein Leben in Isolation ist für bereits schwer traumatisierte Menschen katastrophal und verschlechtert ihren Gesundheitszustand. Frauen* und Kinder brauchen besonderen Schutz und müssen endlich unter menschenwürdigen Bedingungen leben, um nicht immer wieder sexuell und körperlich angegriffen zu werden.

Vielleicht ist es der lange generationenübergreifende, antikoloniale Freiheitskampf, den unsere Vorfahren geführt haben, der uns die Kraft zur Überwindung gibt? Denn noch sind wir nicht am Ziel. Oder ist es die Heiligkeit unserer Körper und Seelen, die uns für ein würdiges Leben kämpfen lässt? Irgendwie sind da viel Mut und Entschlossenheit, diese gefährliche Reise zu überwinden und ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die Sehnsucht nach einem sicheren, besseren oder schlichtweg anderen Leben führt zu Selbstermächtigung und zum Kampf für ihre Rechte und die ihrer Kinder.“

Aus Eurer Erfahrung: Wie oft fliehen Frauen zusammen mit ihren Kindern? Was bedeutet es für sie, den gefährlichen Weg mit ihren Kindern zu gehen? Was bedeutet es für die Kinder, dies durchzumachen?

„Die Frauen, die mutig genug sind, mit ihren Kindern zu fliehen, riskieren nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Kinder. Sie ergreifen diese verzweifelten Maßnahmen, um vor Gefahren aller Art zu fliehen und um ein besseres Leben für sich und ihre Kinder zu ermöglichen. Dies bedeutet manchmal, dass Kinder oder Eltern auf dem Weg den Tod finden. Die traumatischen Erfahrungen dieser gefährlichen Reisen hinterlassen bei den Kindern tiefe psychologische Spuren.“

Die Arbeit von nichtstaatlichen Such- und Rettungsorganisationen wird häufig kritisiert, und die Rettenden werden kriminalisiert. Immer wieder kursiert der Mythos, dass Menschen die gefährliche Überfahrt nur deshalb wagen, weil es Rettungsschiffe gibt. Was sagt ihr dazu mit Blick auf die Erfahrungen von Frauen?

„Glauben diese Menschen, dass wir eine Wahl haben? Glauben sie wirklich, dass wir unsere Kinder nehmen und die gefährlichste Grenze der Welt überqueren, nur aus Spaß und Abenteuerlust?

Dies ist Teil des Krieges gegen Migranten und Flüchtlinge. Und er findet nicht nur an den Außengrenzen Europas statt. Er ist manifestiert in allen Gesetzen, die die Freiheit von Migranten und Flüchtlingen einschränken. Er zeigt sich auch, wenn das Leben und die Gesundheit von Menschen durch den Prozess der Abschiebung bedroht werden. Frauen, Queers und Kinder sind in diesem Prozess am meisten gefährdet.

Die Grenzpolitik, ganz gleich, ob es um physische oder unsichtbare Grenzen geht, ist eine Geldmaschine für alle beteiligten Akteure: Die Europäische Union, einzelne Regierungen, Unternehmen, die Waffen produzieren und exportieren, Frontex und die Betreiber der Lager. Um ihre unmenschlichen Taten zu rechtfertigen, Menschen auf hoher See und durch Wüsten zu jagen, schiebt die europäische Politik natürlich die Schuld auf diejenigen, die versuchen, die Opfer aus Seenot zu retten.“

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Mehr zur wichtigen Arbeit von Women in Exile findet ihr auf der Webseite der Initiative.
Titelbild: © Women In Exile

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