Interview mit politischer Sprecherin von SOS Humanity

Mirka Schäfer auf dem Schiff
Antonia Bretschkow / SOS Humanity

Mirka Schäfer, politische Sprecherin von SOS Humanity, war am 29. März 2025 auf der European Public Policy Conference (EPPC) in Brüssel, wo sie an einer Podiumsdiskussion zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) teilnahm und einen Workshop für Studierende zum Thema Seenotrettung hielt. Im folgenden Interview sprechen wir über die Konferenz, die GEAS-Reform und ihre Auswirkungen auf die Rechte von Schutzsuchenden. 

Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wurde am 10. April 2024 vom Europäischen Parlament angenommen. Welche Änderungen beinhaltet das Reformpaket und wann wird es in Kraft treten? 

Die GEAS-Reform, die im Juni 2026 in Kraft treten soll, führt eine Reihe von EU-Richtlinien und -Verordnungen ein, die einheitliche Standards für das Asylverfahren schaffen sollen. Ursprünglich als Neuanfang präsentiert, führt die GEAS-Reform jedoch schwerwiegende Verschärfungen ein und untergräbt das Recht auf Asyl durch strengere und beschleunigte Grenzverfahren sowie die erweiterte Anwendung des Konzepts des „sicheren Drittstaats“. Anstatt die Situation an den europäischen Außengrenzen zu verbessern, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Reformmaßnahmen zu mehr Gewalt, Leid und Tod führen werden. 

Blaue Wellen des Mittelmeers
Judith Buethe / SOS Humanity
Maßnahmen der GEAS-Reform:
Grenzverfahren

Eine der kritischsten Änderungen ist die Einführung von strengeren und beschleunigten Grenzverfahren. Folge davon ist, dass viele Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, ohne eine gründliche Prüfung ihrer Fluchtgründe inhaftiert werden können. Dies würde den Kern des Asylrechts untergraben. 

„Fiktion der Nichteinreise“ und verlängerte Inhaftierung

Während des Screening- und Grenzverfahrens gilt die Fiktion der Nichteinreise: Obwohl sich die Asylsuchenden in einem europäischen Land aufhalten, gelten sie rechtlich als nicht eingereist. In dieser Phase werden die Asylsuchenden bis zu sechs Monate lang in Aufnahmeeinrichtungen an den EU-Außengrenzen festgehalten. Diese Praxis schränkt die Bewegungsfreiheit massiv ein und ist einer Inhaftierung gleichzusetzen. 

Ausweitung des Konzepts der „sicheren Drittstaaten“

Nach den neuen Regelungen können Asylsuchende in ein als „sicher“ geltendes Land abgeschoben werden, auch wenn sie keine wesentliche Verbindung zu diesem Land haben. Entgegen dem Grundsatz der Nichtzurückweisung, dem Non-Refoulement-Prinzip, könnten Menschen zwangsweise in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Gefahr droht oder sie keinen angemessenen Schutz genießen. 

Geringfügige Änderungen am Dublin-System

Die Reform ändert das Dublin-System nicht wesentlich, da das Prinzip der Ersteinreise beibehalten wird. Dieses Prinzip besagt, dass der erste EU-Mitgliedstaat, den ein*e Asylsuchende*r betritt, für die Bearbeitung des Antrags zuständig ist. Dies bedeutet jedoch, dass die Hauptverantwortung weiterhin bei den Staaten an den EU-Außengrenzen liegt.  

Einführung der „Krisenverordnung”

Ein besonders besorgniserregender Aspekt der Reform ist die Einführung einer „Krisenverordnung“, die es den EU-Mitgliedsstaaten erlaubt Standardregeln auszusetzen, indem sie einen „Notstand“ ausrufen. Diese Maßnahme könnte zu einer noch restriktiveren und unmenschlicheren Behandlung von Schutzsuchenden führen, da es Ländern ermöglicht wird, sich auf Notfälle zu berufen, um Menschenrechtsverpflichtungen zu umgehen. 

Die Reform konzentriert sich also hauptsächlich auf Externalisierungsmaßnahmen. Was bedeutet das konkret für Menschen, die in Europa Schutz suchen? 

Schutzsuchende Menschen könnten in unsichere Länder abgeschoben werden. Das schränkt ihr Recht auf Asyl in der EU stark ein. Außerdem riskiert die EU eine Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen, indem sie die Verantwortung, Menschenrechte zu gewährleisten, auslagert. Bei SOS Humanity beobachten wir die düsteren Auswirkungen der EU-Zusammenarbeit mit Ländern wie Libyen und Tunesien mit Besorgnis. In Libyen sind Geflüchtete willkürlicher Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung und Sklaverei ausgesetzt. Auch in Tunesien werden die Menschenrechte nicht ausreichend geschützt. Geflüchtete und Migrant*innen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara erleben Rassismus und Gewalt, viele werden ohne Nahrung, Wasser oder Unterkunft in der Wüste ausgesetzt. Es gibt sogar Berichte über Menschenhandel. 

Vier Kinder blicken von der Humanity 1 auf das Mittelmeer.
Danilo Campailla / SOS Humanity

Und inwieweit wirkt sich die GEAS-Reform auf die prekäre Situation von Kindern aus, die auf der Flucht sind? 

Die GEAS-Reform untergräbt die Menschenrechte für Menschen auf der Flucht, insbesondere für Kinder. Sie sind besonders gefährdet. Kinderrechtsorganisationen kritisieren, dass die Reform keine ausreichenden Schutzgarantien für Kinder, insbesondere für unbegleitete Minderjährige, während eines Asylverfahrens bietet. Der Fokus auf die Grenzsicherheit und beschleunigte Grenzverfahren geht oft an den besonderen Bedürfnissen der Kinder vorbei, sodass die Gefahr besteht, dass sie unter unangemessenen Bedingungen inhaftiert werden. Dies ist ein deutlicher Verstoß gegen internationale Standards. Darüber hinaus kann das Verfahren zu Familientrennungen führen, die psychisches Leid verursachen und das Recht der Kinder auf die Familienzusammenführung verletzen. 

Das bisherige Gemeinsame Europäische Asylsystem, das sich weitgehend auf die Dublin-Verordnung stützt, weist strukturelle Probleme und Schwierigkeiten bei der Umsetzung auf. Daher war eine Reform notwendig. Wie hätte diese Reform Deiner Meinung nach aussehen sollen? 

Grundsätzlich begrüßen wir die Idee eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, um europaweit gleiche Standards für den Flüchtlingsschutz zu gewährleisten. Ein neues europäisches Asylsystem sollte jedoch auf Solidarität beruhen und den Schutzsuchenden ihre Rechte und Würde zugestehen. Dafür sind einheitliche, rechtsstaatliche Asylverfahren und die individuelle Prüfung von Asylanträgen Grundvoraussetzung. Anstelle des Prinzips der Ersteinreise könnte das Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates durch die Schutzsuchenden eingeführt werden. Wir sehen, dass dies bei ukrainischen Geflüchteten funktioniert hat, wo die  Massenzustromsrichtlinie aktiviert wurde. 

Wird die Seenotrettung in der GEAS-Reform berücksichtigt, und wenn ja, welche Auswirkungen hat die Reform auf die Seenotrettung? 

Die GEAS-Reform sieht keine Maßnahmen vor, um Gewalt, Leid und Tod an den europäischen Außengrenzen zu beenden. SOS Humanity ist eine der NGOs, die versuchen, die humanitäre Lücke zu schließen, die durch den Rückzug der EU-Staaten aus der Seenotrettung entstanden ist. In dem Workshop sprach ich über den operativen, rechtlichen und politischen Kontext von Seenotrettungseinsätzen sowie über die Herausforderungen, mit denen wir als Seenotrettungsorganisation konfrontiert sind.  

Seit 2014 sind mehr als 24.700 Menschen auf der Flucht nach Europa im zentralen Mittelmeer ertrunken. Und das sind nur die Menschen, von denen wir wissen. Viele Schiffbrüche geschehen unbemerkt, sodass es keine Überlebenden gibt, die ihre Geschichte erzählen können.

Welche weiteren Eindrücke nimmst Du von der Konferenz in Brüssel mit nach Berlin? 

Jedes Mal, wenn ich öffentlich spreche, sehe ich, wie schockiert die Menschen über das sind, was auf dem zentralen Mittelmeer passiert – auch in Brüssel. Jeder weiß, was vor sich geht, aber es ist allzu leicht, es zu ignorieren und zu vergessen. Doch wenn der politische Gegner stärker wird, müssen wir zusammenhalten und Widerstand leisten: für Menschlichkeit und in Solidarität mit den Menschen auf der Flucht.

Newsletter Abonnieren
Die Datenschutzerklärung wird mit der Registrierung zur Kenntnis genommen.
Kontakt

SOS Humanity e.V.
Postfach 440352
12003 Berlin

kontakt@sos-humanity.org
+49 3023525682

Spendenkonto

SOS Humanity e.V.

IBAN: DE04 1005 0000 0190 4184 51
BIC: BELADEBEXXX

Transparenz

Copyright 2025 – SOS Humanity