Queerness und zivile Seenotrettung

Laurin Schmid / SOS Humanity

Patrick ist Teil der permanenten Crew des Rettungsschiffs Humanity 1 und arbeitet als Vollmatrose (AB) seit Juli 2022 bei SOS Humanity an Bord. Er hat sich als Ansprechperson angeboten, um neue Unterstützungsstrukturen für queere Menschen an Bord, sowohl für Überlebende als auch für Crewmitglieder, zu schaffen.

Was war deine Motivation, dich für zivile Seenotrettung zu engagieren?

Ich komme aus der Seefahrt und war vor einigen Jahren im Mittelmeer auf See. Ich war ziemlich erschrocken darüber, dass es so viele Notrufe gab. Deshalb habe ich angefangen, zu der Situation zu recherchieren und beschlossen, dass ich mit meinen beruflichen Fähigkeiten gerne Seenotrettung unterstützen möchte.

Und was hat dich motiviert, dich speziell mit den Herausforderungen von queeren Überlebenden zu beschäftigen?

In diesem Umfeld auf See sind wir miteinander solidarisch. Da ich selbst queer bin, wollte ich mich für eine bessere Unterstützung von queeren Mitgliedern der Crew und Geretteten einsetzen. Es fühlt sich nach einem ganzheitlichen Ansatz an, mit allen Menschen auf See solidarisch zu sein.

 

Alessio Cassaro / SOS Humanity

Welche Rolle spielt aus deiner Sicht die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität für Menschen vor, während und nach ihrer Flucht?

Es gibt viele Länder, in denen queere Menschen diskriminiert werden. Im Jahr 2024 sind es immer noch 64 Länder, die LGBTQIA+ Menschen in ihrer nationalen Gesetzgebung in verschiedenen Maßen kriminalisieren. In einigen Ländern ist es sogar strafbar, Solidarität zu zeigen oder offen über LGBTQIA+ Themen oder Rechte zu sprechen. Und viele der Länder, aus denen die Menschen an Bord kommen, fallen in diese Kategorie. Infolgedessen kann es zu Gewalt kommen, sei es durch den Staat, durch die Familie oder sogar auf der Straße. Dies sind Bedrohungen, die das Leben eines Menschen wirklich beeinträchtigen können. Das kann zu sozialer Isolation führen, was sich wiederum negativ auf die psychische Gesundheit auswirken kann. Es gibt also eine Vielzahl von Gründen, warum Menschen an einen neuen Ort ziehen wollen.

"Auf der Flucht sind queere Menschen wahrscheinlich nicht in der Lage, ihre Identität zum Ausdruck zu bringen, was zu Gefühlen der Isolation führen kann. Unterwegs kann es zu Gewalt kommen, sei es von anderen Flüchtenden, von Schmugglern oder in Haftanstalten."

Danach ist es das Gleiche. Angenommen, eine Person kommt in Europa an und beantragt aufgrund der Verfolgung wegen ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung Asyl – das bedeutet nicht unbedingt, dass das Leben dann reibungslos verläuft. Wir sind uns bewusst, dass wir in den westlichen Ländern noch eine Menge Fortschritte für queere Menschen machen müssen. Vielleicht sprechen die Menschen nicht dieselbe Sprache. Vielleicht sind sie in einem Aufnahmelager in einer kleinen Stadt untergebracht, das ziemlich isoliert ist, und dann gibt es einfach keine Unterstützung für sie.

Gibt es besondere Bedürfnisse für queere Menschen an Bord?

Wir halten an Bord zwischen der Rettung und der Ausschiffung eine Ansprache für die Geretteten. Dabei betont der*die Schutzbeauftragte, dass LGBTQIA+ Identitäten ein Grund sind, um in Europa Asyl beantragen zu können.

Innerhalb der Crew machen wir auch Fortschritte:

"Die Seefahrt ist traditionell eine heterosexuelle, männlich dominierte Welt und die meisten Machtstrukturen und die Art, wie Schiffe funktionieren, spiegeln das wider."

Deshalb haben wir begonnen, darüber zu diskutieren, wie sich all diese Dinge auf uns an Bord auswirken – auch in Bezug auf FLINTA* (Frauen, Lesben, Intersexuelle, nicht-binäre, Trans- und Agender) Identitäten, denn ich denke, es betrifft im Grunde alle, die nicht aus einer hetero- und cis-männlichen Perspektive blicken. Wir müssen Strukturen und Wege finden, um diese Menschen zu unterstützen und zu befähigen, Führungspositionen einzunehmen, sich sicher zu fühlen und ihre Identität offen zu leben.

Bei den Überlebenden ist das nicht so klar. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, dafür zu sorgen, dass wir genügend Informationen und Ressourcen für die Menschen bereitstellen können, und zwar auf eine zugängliche, aber anonyme Weise.

"Es ist schwer, den Weg jeder einzelnen Person zu verstehen und zu erkennen, wo diese Person auf ihrem Weg zur Akzeptanz ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität steht."
Max Cavallari / SOS Humanity

Ich weiß, dass ich, obwohl ich in der „fortschrittlichen“ kanadischen Gesellschaft aufgewachsen bin, sehr lange gebraucht habe, um mich mit mir selbst wohlzufühlen und zu verstehen, wie diese Identität mein Leben prägt. Es wäre also zu viel verlangt, von einer Person zu erwarten, dass sie direkt sagen kann: „Okay, ja, so bin ich nun mal. Und jetzt werde ich mit dieser Zukunft weitermachen.“

Ebenso ist es eine Herausforderung, Wege zur Unterstützung zu finden. Wir denken über verschiedene Möglichkeiten nach, Informationen zu verbreiten oder einen sicheren Raum zu schaffen. Wir werden bald Gespräche mit Organisationen und Personen an Land führen, um möglicherweise ein Netzwerk aufzubauen und gute Wege zu finden, wie wir queere Überlebende auch nach der Rettung unterstützen können.

Was sind deine Wünsche oder Forderungen an die Politik in Bezug auf zivile Seenotrettung und den Schutz von queeren Menschen auf der Flucht?

Geschlossene Grenzen sind gewalttätig und die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht, egal ob sie LGBTQIA+ sind oder nicht, ist ganz klar eine Strategie, die nicht funktioniert – sie reproduziert nur den Kreislauf der Gewalt. Ich fordere Politiker*innen auf, die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht zu beenden und sich für sichere Migrationsrouten und sichere Unterstützungsnetzwerke einzusetzen.

"Migration ist nicht neu und wird auch nicht durch eine neue harte Politik beendet werden. Wir müssen realistisch sein und Wege finden, den Menschen zu helfen."

Mein Ziel als Einzelperson, aber auch mit SOS Humanity als Organisation, in der wir etwas verändern können, ist es, auf eine Zukunft hinzuarbeiten, in der alle Menschen, einschließlich queerer Menschen, befreit sind. Dieser Gedanke treibt uns an, Wege zu finden, wie wir unsere Arbeit auf dem Schiff so gestalten können, dass wir zumindest einen kleinen Einfluss auf die Zukunft von queeren Geretteten und die Solidarität mit Menschen auf der Flucht haben.

Dieses Interview wurde online von Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle mit dem Crewmitglied Patrick geführt.

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