Die Flucht eines Jugendlichen aus Westafrika
Keita* (15) kommt aus Guinea. Von dort machte er sich über Mali, Algerien und Libyen auf den Weg nach Tunesien. Im Juli 2023 konnte SOS Humanity ihn beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren retten. An Bord der Humanity 1 erzählte er der Crew von seinem Wunsch nach einem besseren Leben in Europa, von seinen Erfahrungen in libyschen Gefängnissen und von dem Rassismus und der Gewalt, denen Schwarze Menschen in Libyen und Tunesien ausgesetzt sind.
„Ich bin der älteste Sohn meines Vaters. Mein Vater hat mindestens sieben Kinder und zwei Ehefrauen. Meine Mutter ist verstorben. Mein Vater und sein älterer Bruder kümmern sich um die Familie. Die beiden arbeiten als Verkäufer, um uns zu ernähren. Aber mein Vater und sein Bruder haben nicht genug Mittel, um für die ganze Familie zu sorgen. Es ist nicht einfach in Afrika. Die Bedingungen sind sehr schwierig, die Arbeitslosigkeit hoch. Wir suchen nach Arbeit, aber wir finden keine.
Ich habe beschlossen Verantwortung zu übernehmen. Mein Vater dürfte nicht krank werden. Wer sollte dann für die Familie sorgen? Ich bin Schüler, ich bin in Guinea bis zur zwölften Klasse zur Schule gegangen. In den Ferien versuchte ich, das Geld [für die Reise] aufzutreiben. Als die Schule anfing, verließ ich das Dorf. Mein Vater hat nichts davon gewusst. Sie haben mich angerufen. Aber ich habe nicht abgenommen. Ich kam über Mali und Algerien bis an die Grenze zwischen Libyen und Algerien. Dort habe ich gearbeitet, weil mein Geld ausging.
Von Algerien aus fuhren wir in Lastwagen, beladen mit Kühen. Wir fuhren auf dem Dach der Laster mit. Wir waren erschöpft. Dann öffneten sie die großen Container. Sie haben uns reingelassen, vierundzwanzig Leute, dann schlossen sie uns ein. Es war sehr, sehr schlimm dort. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass da Menschen drin sind.
„Drei Fluchtversuche, drei Mal im Gefängnis.“
Ich kam nach Libyen. Nach drei Wochen begann ich zu arbeiten. Nach einem Monat riefen sie mich an und sagten mir, dass wir nach Italien überfahren würden, wenn ich bereit sei. Sie verlangten von uns sieben Millionen Guinea-Francs für das Boot. Wir waren 150 Leute, ein Fuß im Wasser, ein Fuß im Boot. Wir waren drei Tage lang auf See. Ein libysches Boot kam, fing uns ab und brachte uns ins Gefängnis.
Die Leute, die uns auf dem Wasser erwischt haben, sind Verbrecher. Sie schossen auf die Ocean Viking, ein Rettungsschiff, sie zielten in die Luft. Wir wurden verprügelt und gefesselt. Ich war einige Tage oder eine Woche im Gefängnis. Mein Vater schickte Geld. Ich hatte 3.500 libysche Dinar für die Überfahrt bezahlt. Jetzt zahlte ich weitere 3.500 Dinar, um aus dem Gefängnis zu kommen, sonst würde ich darin sterben. Mein Vater sagte zu mir, egal was passiere, er würde mich rausholen, er würde einen Kredit aufnehmen. Also kam ich raus.
Rassismus und Gewalt in Tunesien
Ich machte mich zu Fuß auf den Weg nach Tunesien. Es ist ein weiter Weg dorthin. Drei Tage. Dort sind sie es nicht gewohnt, Schwarze zu sehen. Sie rannten weg, als ob wir Wilde wären. Wir versuchten [die Flucht übers Meer] wieder und die tunesische Nationalgarde erwischte uns. Wir waren 47 Menschen. Die Nationalgarde schlug eine der Frauen. Der [Mann am Steuer des Bootes] ließ plötzlich den Motor an und fuhr mit ein paar Leuten an Bord davon. [Die tunesische Nationalgarde] verfolgten sie, konnten sie aber nicht einholen. Sie haben es bis nach Italien geschafft. Wir baten [die tunesische Nationalgarde], uns gehen zu lassen. Wie kann ein Afrikaner einen anderen Afrikaner daran hindern, sich auf die Suche nach dem Leben zu machen, das er sucht? In einem Land, in dem es kein Geld gibt, bin nicht losgezogen, um zu vagabundieren, zu stehlen oder zu vergewaltigen. Ich tat es für ein besseres Leben.
Danach bin ich noch dreimal aus Libyen geflohen. Jedes Mal haben uns die Libyer erwischt. Drei Fluchtversuche, drei Mal Gefängnis. Sie foltern uns. Es ist ein Geschäftsmodell. Es ist wie Diebstahl, wenn du schwarz bist, kommen sie nachts und nehmen dich heimlich mit.
Ich habe zu viel Rassismus gesehen, besonders in Libyen. Wenn sie [Schwarze] sehen, halten sie sich die Nase zu, um zu zeigen, dass sie stinken. Man kann sich nicht einmal hinlegen und schlafen. Du kannst kein Taxi nehmen, um in eine andere Stadt zu fahren. In libyschen Städten holen sie dich ab und stecken dich ins Gefängnis.
Hoffnung Europa: „Ich tat es für ein besseres Leben“
[Das letzte Mal, als ich versuchte, mit einem Boot] zu flüchten, war sehr, sehr teuer. Das Geld war ein Darlehen. Es war meine letzte Hoffnung. Ich wusste nicht einmal, dass ein Rettungsschiff auf See sein würde, denn in diesem Moment war keines dort. Die Rettungsschiffe sollten die ganze Zeit auf See sein. Aber es war zu stürmisch. Wir verloren alle Hoffnung.
Wir waren drei Tage lang auf See, 47 Personen. Es gab zu viele Wellen, es war zu windig, man sagte uns, wir sollten umdrehen. Unter uns waren mehr als siebzehn Frauen. Wir kehrten um und fuhren wieder zurück nach Tunesien. Alle stiegen aus. Ich sagte: „Wir können nicht zurück, wir müssen es versuchen. Wenn wir heute sterben, dann sterben wir eben.“ 27 Menschen, darunter ich, beschlossen, das Risiko einzugehen, auf demselben Boot, am selben Tag.
Als wir das zweite Mal losfuhren, gab es nichts [zu essen oder zu trinken]. Wir tranken Wasser aus dem Mittelmeer, von dem wir würgen mussten. Wir waren verzweifelt. Es gab keine Hoffnung mehr. Das Wetter war sehr schlecht. Wir waren in Seenot.
Wir sahen ein Fischerboot kommen. Es forderte uns auf, anzuhalten, und rief ein großes Schiff, um uns alle zu retten. Als ich euch sah, sagte ich: „Das ist die Humanity. Ich war so glücklich.“
Mein Ziel ist es, nach Europa zu gehen und zu studieren. Seit ich ein Kind war, wollte ich immer Übersetzer werden. Ich spreche Malinké in Guinea und ich spreche Französisch. Das ist mein Traum. Ich möchte meine Ausbildung fortsetzen und Übersetzer werden und mich dann um meine Familie kümmern. Denn ich bin im Moment die einzige Hoffnung für meine Familie.
Ich würde den Organisationen raten, immer mit Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer zu sein. Es ist sehr, sehr schwierig, nur ein Schiff zu haben. [Und jedes Mal einen weit entfernten] Hafen in Norditalien anzulaufen, ist keine gute Lösung. Der Hafen muss in der Nähe sein. Das Leben ist nicht einfach. Man muss immer kämpfen, besonders in den nordafrikanischen Ländern. Aber Gott hat uns geholfen. Ich bin sehr, sehr glücklich.“
*Name geändert und nciht auf den Fotos abgebildet, um die Identität des Jugendlichen zu schützen. Das Gespräch wurde von Sasha Ockenden an Bord der Humanity 1 auf Französisch geführt und aufgezeichnet, Mitarbeiter im Kommunikations-Team von SOS Humanity.