Gewalt und Rechtslosigkeit der letzten zwei Wochen im Mittelmeer

Gewalt und Rechtslosigkeit der letzten zwei Wochen im Mittelmeer
SOS Humanity verurteilt die Gewalt und Rechtslosigkeit der letzten zwei Wochen im Mittelmeer nach dem bewaffneten Angriff der sogenannten libyschen Küstenwache
In den letzten zehn Jahren waren Such- und Rettungsorganisationen sowie Menschen auf der Flucht eskalierender Gewalt und Rechtslosigkeit im zentralen Mittelmeer ausgesetzt. Die Ereignisse der letzten zwei Wochen stellen einen alarmierenden Höhepunkt dieser empörenden Entwicklung dar: Wir mussten tödliche Schiffbrüche, die systematische Behinderung von Rettungsmaßnahmen sowie die Nichteinhaltung des Völkerrechts durch staatliche Akteure und zuletzt auch gefährliche Einschüchterungsversuche durch Patrouillenboote der sogenannten libyschen Küstenwache miterleben, die am Sonntag in dem brutalen Schussangriff auf das Rettungsschiff Ocean Viking gipfelten.
„Aufgrund der zunehmenden Externalisierungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten und der systematischen Behinderung unserer Rettungsarbeit hat sich das zentrale Mittelmeer nicht nur als eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt etabliert, sondern auch zu einem gesetzlosen Schlachtfeld entwickelt. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache unverzüglich einstellen müssen, um dem Chaos und den Todesfällen auf See ein Ende zu setzen“, sagt Marie Michel, Advocacy-Referentin bei SOS Humanity.
Zu dem gewaltsamen Angriff auf die Ocean Viking sagt Michel: „Die anhaltende Gewalt gegen Menschen auf der Flucht und die jüngsten gezielten Schüsse auf Rettungskräfte zeigen einmal mehr: Diese sogenannte Küstenwache ist ein illegitimer Akteur und agiert wie eine aggressive Miliz, die bewusst das Leben von Menschen auf See gefährdet.“
Der brutale Angriff auf die Ocean Viking markiert einen Eskalationshöhepunkt, ist aber kein Einzelfall. Die folgende Chronologie zeigt das schockierende Ausmaß der jüngsten vorsätzlichen Gewalttaten und Gesetzlosigkeiten durch staatliche Akteure im zentralen Mittelmeer.
13.08.2025
Zwei Boote mit fast 100 Menschen an Bord kentern vor Lampedusa, wobei mindestens 27 Menschen ums Leben kommen und etwa ein Dutzend vermisst werden. Dieser tragische Vorfall unterstreicht, wie gefährlich die Flucht über durch das zentrale Mittelmeer ist und wie dringend Rettungskapazitäten benötigt werden.
18.08.2025
Das zivile Rettungsschiff Mediterranea wird von acht unbekannten Booten in gefährlichen Manövern umkreist. Die Männer an Bord waren bewaffnet und forderten die Besatzung der Mediterranea aggressiv auf, „Libyen zu verlassen“, obwohl sich das Schiff in internationalen Gewässern befand.
20.08.2025
In stockfinsterer Nacht rettet das zivile Rettungsschiff Mediterranea zehn Menschen aus dem Wasser, die zuvor von einem unbekannten Militärschiff in der libyschen Such- und Rettungszone über Bord geworfen wurden.
22.08.2025
Während der Rettung von 65 Menschen in Not entdeckte das zivile Rettungsschiff Nadir die Leichen von drei Schwestern (9, 11 und 17 Jahre alt), die in ihrem Boot ertrunken waren. Eine weitere Person gilt als vermisst. Der Fall unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer schnellen Rettung von seeuntüchtigen und überfüllten Booten, die für die Überquerung des zentralen Mittelmeers verwendet werden.
23.08.2025
Nach der Rettung von 51 Menschen aus Seenot und der Bezeugung einer illegalen Rückführung durch ein Boot der sogenannten libyschen Küstenwache, bedrohte dasselbe libysche Boot die Humanity 1 und befahl der Besatzung, das Gebiet zu verlassen, mit der Begründung, es handele sich um „ihre Gewässer“, obwohl sich die Humanity 1 tief in internationalen Gewässern befand. Nur wenige Stunden später wurde das Segelschiff Trotamar III mit Schüssen bedroht – sehr wahrscheinlich von demselben libyschen Schiff.
24.08.2025
Ein libysches Patrouillenboot derselben Klasse, das am Vortag die Humanity 1 und die Trotamar III bedroht hatte, feuerte mehr als 20 Minuten lang gezielt auf das zivile Rettungsschiff Ocean Viking und schoss Hunderte von Kugeln auf die Brücke, die Antennen, die Fenster, die Schutzräume für Überlebende und die Rettungsausrüstung. Das Schiff war den libyschen Behörden 2023 im Rahmen von EU-Hilfsprogrammen von Italien gespendet worden. Wie durch ein Wunder wurden weder die Besatzungsmitglieder noch die 87 Überlebenden an Bord verletzt. Der Vorfall markiert einen Höhepunkt der eskalierenden, ungebremsten Gewalt der sogenannten libyschen Küstenwache gegen Rettungskräfte und Menschen in Seenot.
25.08.2025
Mit 51 Überlebenden an Bord, darunter 20 unbegleitete Minderjährige und Kinder, stellte die Humanity 1 beim Jugendgericht von Taranto einen Antrag auf sofortige Ausschiffung der Überlebenden. Obwohl der Antrag vom Gericht an die italienische Rettungskoordinierungsstelle weitergeleitet wurde und es sich um eine große Zahl extrem schutzbedürftiger Menschen handelte, zwangen die italienischen Behörden die Humanity 1, bis nach Ravenna, dem zugewiesenen sicheren Ort, zu fahren, wodurch sie den Überlebenden ihr nach dem Seerecht bestehendes Recht auf schnellstmögliche Ausschiffung verwehrten und das Rettungsschiff unnötig lange aus dem Einsatzgebiet fernhielten. Alle Überlebenden mussten eine unnötige Fahrt von 1.600 km und fünf weitere Tage auf See erdulden.
26.08.2025
Zwei zivile Schiffe, Mediterranea und Trotamar III, werden willkürlich von den italienischen Behörden festgesetzt, nachdem sie Überlebende, die sie zuvor aus Seenot gerettet hatten, an Land gebracht hatten. Dies geschah auf Grundlage des italienischen Piantedosi-Gesetzes, das Such- und Rettungsmaßnahmen bewusst behindert. Zwei weitere Schiffe, Nadir und Astral, wurden angewiesen, nach Lampedusa zu fahren, nur um dort Dokumente abzugeben, nachdem sie die italienische Küstenwache bei zwei Rettungsaktionen unterstützt hatten – eine neue administrative Taktik, die ebenfalls darauf abzielt, Rettungsschiffe aus ihrem Einsatzgebiet zu entfernen.