Blog von Bord 05
In der Dunkelheit retten wir 45 Menschen aus einem völlig überfüllten Holzboot. Pressesprecherin Petra berichtet direkt von der Humanity 1.
Samstag, 22. Oktober 2022, Mittelmeer
Bisher glich der Oktobereinsatz der Humanity 1, den ich derzeit an Bord begleite, eher einem Such- als einem Rettungseinsatz. Das sollte sich jedoch bald ändern.
Nachdem unsere gezielte Suche nach zwei gemeldeten Seenotfällen von Dienstagabend bis Donnerstag erfolglos bleibt, meldet die zivile Notfall-Hotline Alarm Phone am Freitagmorgen einen weiteren Seenotfall: 32 Menschen in einem Schlauchboot, denen das Benzin ausgegangen ist. Die Position ist 240 Seemeilen entfernt von uns, also rund 24 Stunden Fahrtzeit. Wir nehmen Kurs und Fahrt auf. Am Nachmittag hören wir über Funk, wie Fischer ein blaues Boot in Seenot melden, „a lot of people, they need help!“ Die angegebene Position ist nur 80 Seemeilen entfernt, daher nehmen wir zunächst Kurs auf diesen Seenotfall. Doch die intensive Suche in der Nacht bleibt erfolglos. Am Morgen erhalten wir eine aktualisierte Position des schwarzen Schlauchboots mit 32 Personen von Alarm Phone. Daher kehren wir wieder auf den Kurs zu diesem Fall zurück. Kurze Zeit später erfahren wir dann, dass die zuständige maltesische Seenotleitstelle (MT MRCC) offenbar mehrere Handelsschiffe zu den Seenotfall geschickt hat. Da nun ein weiterer Notruf von einem Fischer für das blaue Boot über Funk eingeht, setzen wir unsere Suche nach diesem Seenotfall fort, der sonst keine Hilfe bekommt.
Am späten Samstagvormittag habe ich Lookout-Dienst auf dem obersten Deck. Nach einer Stunde entdecke ich durch mein Fernglas am Horizont ein dunkles, flaches Objekt, das ein Schlauboot sein könnte. Ich melde es sofort an die Brücke. Wir fahren darauf zu und vermuten, dass es sich um ein Schlauchboot handelt. Dann geht es los: „All crew, all crew, ready for rescue!“, weist unser Such- und Rettungskoordinator (SARCo) Dragos über das Funkgerät an, das jede*r von uns am Körper trägt. Ich stelle mir vor, wie schnell ich das Schlauboot hätte übersehen können. Auf einmal spüre ich tonnenschwer die Verantwortung eines solchen Lookout-Dienstes.
In kompletter Rettungsausrüstung trifft sich die Rettungscrew an Deck, um von dort die Schnellboote zu besteigen. Doch dann kommt die überraschende Nachricht: Das Schlauchboot stellt sich als aufgedunsener Kadaver eines toten Wales heraus, der schließlich langsam an unserem Schiff vorbei treibt.
Nach dem falschen Alarm vom Vormittag meldet uns Sea-Watch Airbone nur kurze Zeit später, dass ihr Aufklärungsflugzeug Seabird 3 ein Holzboot mit vielen Menschen an Bord gesichtet hat. Wir vermuten, dass es sich um den Seenotfall handelt, den wir Nachts nicht finden konnten und gerade suchen. Nun bekommen wir dessen aktuelle Position, die wir nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Die Crew ist ruhig, aber alle sind hellwach, man spürt konzentrierte Energie. Ich steige mit vier Rettungscrew-Mitgliedern auf unser Schnellboot (RHIB) „Bravo“ und wir nähern uns langsam bei ruhiger See dem Licht einer Taschenlampe in der Dunkelheit. Außer dem blinkenden Lichtlein ist nichts zu erkennen, bis wir schon relativ nah sind und unserer Lampe auf die blinkende Stelle richten. Plötzlich sieht man ein großes Holzboot, ähnlich einem Segelschiff ohne Mast. Darauf sitzen dichtgedrängt junge Männer, die unsicher in das helle Licht blinzeln. Manche stellen sich auf und rufen und winken. Niemand trägt eine Rettungsweste.
Wir winken zurück, fahren langsam heran, dann beginnt SARCo Dragos mit seiner Ansprache: „We are here to help you, we are from Europe!“ Rufe auf Arabisch, dann übernimmt unser Kultur-Mediator Fares, der aus Syrien stammt. Er weist die Menschen auf Arabisch an, ruhig sitzen zu bleiben, erklärt, dass wir sie alle auf unser Rettungsschiff bringen, aber erst, wenn alle eine Rettungsweste angelegt haben. Die Menschen verneinen die Frage nach Frauen und Kindern und nach Verletzten, teilen uns mit, sie seien 45 Männer aus unter anderem Syrien, Bangladesch und Ägypten. Ich reiche die Rettungswesten, die wir in großen, weißen Säcken mitführen, zügig nach vorne durch. Dragos führt vor, wie man sie anlegt. Die Überlebenden sind kooperativ und helfen sich auch gegenseitig.
Alles läuft recht geordnet und übersichtlich ab. Nun kann einer nach dem anderen auf unser Schnellboot steigen, während der RHIB-Fahrer Oriol unser Boot geschickt nah an dem Holzboot hält. Ich stehe im hinteren Teil unseres Bootes, winke einen nach dem anderen zu mir, zeige ihnen, dass sie sich auf die Luftkammer des Bootes setzen sollen und heiße sie willkommen, auf Englisch und Arabisch. Ich bekomme viele hochgehaltene Daumen, „thank you“, „shukran“, Hand ans Herz. Ich lächele an, in der Hoffnung, dass man es trotz Mund- und Nasenschutz an meinen Augen sieht. Einige beten, die Hände zum Himmel. Mit 16 Überlebenden legen wir ab, unser zweites Schnellboot „Tango“ wartet schon in geringer Entfernung, um die nächsten an Bord zu nehmen.
Es läuft alles so routiniert ab, als hätten wir seit Wochen täglich Rettungen durchgeführt. Die Trainings im Vorfeld haben sich wirklich gelohnt und ich sehe die Erfahrung der Kolleg*innen. Beim Eintreffen an der Humanity 1 ist diese einladend beleuchtet, viele Crewmitglieder stehen an der Reling oben und unten, winken freundlich, Bootsmann Samir ruf: „Salam aleikum!“ Kurz müssen wir die Geretteten anweisen, sitzen zu bleiben. Die Anlandung ist ein wackliger Moment, bei dem schnell jemand über Bord fallen kann. Ein junger Mann neben mir will seine Rettungsweste ausziehen, ich bedeute ihm, dass er sie anlassen soll, bis er an Deck ist. Zügig klettern alle nacheinander die Bordleiter herauf, die letzten Stufen werden sie von zwei Crewmitgliedern an den Händen hochgezogen.
Oben wird ihnen aus den Westen geholfen, dann setzen sie sich erst einmal auf den Boden, wir wollen sie in Ruhe registrieren. Jeder bekommt eine Nummer, unbegleitete Minderjährige und medizinische Fälle bekommen ein farbiges, alle anderen ein neutraleres. Zum Glück gibt es für unser medizinisches Team nur weniger schwere Beschwerden zu lindern: Durchfall, Dehydrierung, Kopfschmerzen. Nachdem jeder eine Decke und ein Rescue Kit mit frischer Kleidung bekommen hat, gehen sie duschen und putzen ihre Zähne. Wer weiß, wie lange sie das nicht konnten. Dann gibt es süßen Tee. Der wird literweise getrunken, während die Überlebenden langsam zur Ruhe kommen.
Kurz nach 01:00 Uhr morgens, bei meiner Deckwache mit Luca, dem ehrenamtlichen Beauftragten für Psychische Gesundheit, können auch die letzten Geretteten in ihre Decken gehüllt einschlafen. Am nächsten Tag werden die Männer richtig bei uns an Bord ankommen. Sie werden zu Musik tanzen, uns dabei einbeziehen und viele Selfies mit Crewmitgliedern machen wollen, nachdem wir ihre Handys wieder aufgeladen haben. Zu diesem nächtlichen Zeitpunkt bin ich einfach nur froh, dass alles so gut geklappt hat.