Gemeinsames Statement von 55 Organisationen: Appell an die Bundesregierung zu ihrer Position zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
Nein zur „Instrumentalisierung“ durch die Hintertür
Das Recht an den EU-Außengrenzen einhalten, nicht verbiegen
Gerade erst haben die EU-Innenminister*innen sich auf verschärfte Grenzverfahren (unter Anwendung einer „Fiktion der Nicht-Einreise“, die absehbar zu Haft oder haftähnlicher Unterbringung führen wird), auf eine Ausweitung des Konzepts der „sicheren Drittstaaten“ sowie auf einen unzuverlässigen Solidaritätsmechanismus und die weitgehende
Beibehaltung des Dublin-Systems geeinigt.
Doch der Tiefpunkt ist noch nicht erreicht: Es wird mit Hochdruck an einer weiteren massiven Verschärfung gearbeitet. Die schwedische EU-Präsidentschaft hatte noch auf den letzten Metern ihrer Präsidentschaft die „Verordnung für Ausnahmen im Falle von Krisen, Instrumentalisierung und höherer Gewalt“ (Stand 23. Juni 2023) auf den Weg gebracht, nun macht die spanische Präsidentschaft mit den Vorschlägen weiter. Es sollen unter anderem die Verzögerung von Registrierungen, die Verlängerung von Grenzverfahren – dann für so gut wie alle Gruppen von Geflüchteten – sowie massive Absenkungen bei den Unterbringungs- und Aufnahmestandards möglich werden. Der Verordnungsentwurf wird aktuell zwischen den EU-Staaten verhandelt.
Die von der Bundesregierung für die GEAS-Reform gewünschten Ausnahmen vom Grenzverfahren für Kinder oder andere vulnerable Personen wären dem Verordnungsentwurf nach vom Tisch. Auch droht eine Legitimierung der Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen.
Bereits im Dezember 2022 appellierten 35 Organisationen an die Bundesregierung, dem damaligen Vorstoß für eine Instrumentalisierungsverordnung nicht zuzustimmen. In ihrem Prioritätenpapier spricht sich die Bundesregierung gegen die Aufnahme der Verschärfungen im Fall einer Instrumentalisierung aus. Angesichts der nun beginnenden Verhandlungen im Rat über die Krisenverordnung, in die die Vorschläge im Falle der „Instrumentalisierung“ eingefügt wurden, fordern wir erneut mit Nachdruck: Die Bundesregierung muss bei ihrem „Nein“ zur Instrumentalisierungsverordnung bleiben und darf einer Einführung der Krisen-Verordnung nicht zustimmen.
„Das Leid an den Außengrenzen beenden“
Seit Jahren verüben Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an den Außengrenzen der EU – unter anderem mittels Notstandsmaßnahmen – schwerwiegendste Menschenrechtsverletzungen. Der Ausnahmezustand wird dazu genutzt, den Schutzsuchenden den Zugang zu humanitärer Hilfe zu verwehren und die Öffentlichkeit auszuschließen, um die Gewalt an der Grenze zu verbergen. Statt frierenden Menschen in den Urwäldern an der Grenze zu Belarus medizinisch zu helfen und ihr Asylverfahren einzuleiten, prügeln polnische Grenzschützer sie über die Grenze zurück. Statt Menschen aus Seenot zu retten, drängt die griechische Küstenwache schutzsuchende Menschen auf der Ägäis Richtung Türkei.
Das ist eine Krise der Menschlichkeit und eine Krise der Menschenrechte. Es ist auch eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU. Die Bundesregierung hat es sich mit dem Koalitionsvertrag zum Ziel gemacht, „die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen [zu] beenden“. Die nun diskutierte Verordnung wäre ein weiterer Schritt hin zu einem Europa, in dem grundlegende Werte wie Menschenwürde und Flüchtlingsschutz nicht zählen. Die Bundesregierung kann jetzt noch im Rat entscheidenden Einfluss nehmen.
Recht einhalten, nicht verbiegen
Der Entwurf der Verordnung für den Fall von Krise, Instrumentalisierung und höherer Gewalt sieht vor, europäische Vorschriften für Asylverfahren sowie für die Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden weit unter jedes erträgliche Minimum abzusenken. Im Falle einer Instrumentalisierung würde eine Regelung im Schengener Grenzkodex durch die Schließung von Grenzübergängen es fliehenden Menschen nahezu unmöglich machen, an den Außengrenzen einen Asylantrag zu stellen. Statt schutzsuchende Menschen zu schützen, erhöht besonders das Konzept der Instrumentalisierung sogar noch die Gefahr, dass diese illegal – und oft mit Gewalt – zurückgeschoben werden. Wenn es doch jemand schafft, einen Asylantrag zu stellen, erlaubt es die Verordnung, diese Person bis zu fünf Monate zu inhaftieren. Dies betrifft auch Traumatisierte, Menschen mit Behinderung, Familien und allein fliehende Kinder. An den Grenzen werden die Bedingungen, wie auf den
griechischen Inseln und anderswo häufig genug gesehen, absehbar menschenunwürdig sein. Notwendige unabhängige rechtliche Beratung oder medizinische und psychologische Unterstützung werden kaum möglich sein.
Nein zu einer Instrumentalisierung durch die Hintertür, Nein zum aktuellen Entwurf der Krisen-Verordnung
Die Verordnung für den Fall von Krise, Instrumentalisierung und höherer Gewalt droht an den Außengrenzen den schon bestehenden Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Europäisches Recht muss wieder angewendet werden – die vorgelegte Verordnung verbiegt aber das Recht und ermöglicht es, das geltende Recht an den Außengrenzen zu brechen. Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung eindringlich auf, dies nicht zuzulassen und in den Verhandlungen im Rat eine klare rote Linie zu ziehen.
Bundesebene
Ärzte ohne Grenzen e.V.
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
Amnesty International Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
AWO Bundesverband e.V.
borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V.
Brot für die Welt
Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit e.V.
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – BumF e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL
Der Paritätische Gesamtverband
Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF e.V.)
Deutscher Caritasverband e.V.
Diakonie Deutschland
ECCHR: European Center for Constitutional and Human Rights
ECPAT Deutschland e.V.
Equal Rights Beyond Borders e.V.
FORUM MENSCHENRECHTE – Netzwerk deutscher Menschenrechtsorganisationen
IPPNW e.V. – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung
des Atomkriegs /Ärzt*innen in sozialer Verantwortung
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Jugendliche ohne Grenzen
JUMEN e.V. – Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland
Kindernothilfe e.V.
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
#LeaveNoOneBehind
Lesben- und Schwulenverband (LSVD)
medico international
MISSION LIFELINE International e.V.
Ökum. Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.
pax christi – Deutsche Sektion e.V.
r42 – Sail and Rescue
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
RESQSHIP e.V.
Sea-Watch
Seebrücke
SOLWODI Deutschland e.V.
SOS Humanity
Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus
terre des hommes
United4Rescue – Gemeinsam retten e.V.
Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV)
ver.di Bundesmigrationsausschuss
Zukunftsforum Familie e.V
Landesebene
Arbeitsgemeinschaft der Diakonie in Rheinland-Pfalz
Berlin hilft
Berliner Netzwerk für besonders
schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS)
Diakonie Schleswig-Holstein
Flüchtlingsräte der Bundesländer
Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V.
Landesintegrationsrat NRW
REFUGIO Thüringen
Wir packen’s an e.V. – Nothilfe für Geflüchtete
XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V.
Zentrum Überleben