Zivile Flotte: Über ein Jahr Einsatzzeit verloren
In Verbindung mit dem im Januar 2023 neu erlassenen italienischen Gesetz weist die extrem rechte italienische Regierung Rettungsschiffen seit einem Jahr systematisch weit entfernte Häfen zu, um ihre Arbeit aktiv zu behindern. Weil das klar gegen EU- und Völkerrecht verstößt, haben wir im April 2023 gemeinsam mit weiteren NGOs Klage vor dem Zivilgericht in Rom und im Juli 2023 eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht. Unsere neuen Datenauswertungen zeigen das Ausmaß der Behinderung: Allein 2023 verloren Rettungsschiffe mehr als ein Jahr Einsatzzeit.
Seit die Humanity 1 im August 2022 in den Einsatz startete, konnte sie nur ein einziges Mal aus Seenot Gerettete in einen nahen Hafen auf Sizilien bringen. Das ist kein Zufall, sondern politische Taktik. Statt einen nahe gelegenen sicheren Ort zuzuweisen, wie es das Seerecht vorschreibt, schickt Italien zivile Rettungsschiffe systematisch zu weit vom Einsatzgebiet entfernten Häfen im Norden und/oder Osten Italiens. Die mehrtägige Fahrt dorthin stellt ein vermeidbares Risiko und eine Grundrechtsverletzung für die Überlebenden dar, die oft tagelang auf See in Lebensgefahr schwebten und vor Menschenrechtsverletzungen fliehen. Es bedeutet zudem zusätzliche Kosten für uns als Seenotrettungsorganisationen durch hohen Vorrats- und Treibstoffverbrauch. Vor allem aber verringert dies die Zeit im Einsatzgebiet und führt zu mehr Toten auf dem zentralen Mittelmeer.
Ungleiche Bedingungen für zivile Flotte und Küstenwache
Diese Praxis steht auch in Verbindung mit dem 2023 in Kraft getretenen neuen italienischen Gesetz („Piantedosi-Dekret“), welches unter anderem vorschreibt, dass zivile Rettungsschiffe nach der ersten durchgeführten Rettung unverzüglich den zugewiesenen Hafen anlaufen müssen. Sie sind gezwungen, das Gebiet zu verlassen, in dem die meisten Seenotfälle auftreten. Befolgen die Schiffe dies nicht, drohen Geldstrafen von bis zu 50.000 Euro sowie die Festsetzung und schließlich auch die Beschlagnahmung der Rettungsschiffe. In vielen Fällen wurden zivile Schiffe im vergangenen Jahr festgesetzt, weil sie die von Italien zugewiesenen Häfen nicht anfahren konnten, ohne die Sicherheit der Geretteten an Bord zu gefährden.
Die Schiffe der italienischen Küstenwache bringen aus Seenot Gerettete hingegen weiterhin an nahegelegene Häfen an Land. Die italienischen Behörden weisen nur für zivile Rettungsschiffe weit entfernte Häfen zu. Während das für die kleinere Rettungsschiffe bedeutet, dass sie nicht mehr auf Lampedusa anlegen können, dürfen große Rettungsschiffe wie die Humanity 1 die Geretteten nicht mehr im nahegelegenen Sizilien ausschiffen.
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Jahr2023
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Weit entfernte Häfen20
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Ausschiffungen an weit entfernten Häfen107
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Extra gefahrene Kilometer150.538
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Verlorene Tage374
Dreieinhalb Mal um die Welt
Insgesamt gingen der zivilen Flotte damit 374 Tage im Einsatzgebiet auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt verloren. Über ein Jahr lang waren sie mit der Fahrt von und zu weit entfernten Häfen anstatt mit dem Retten von Menschenleben beschäftigt! Die politische Praxis der weit entfernten Häfen zeugt damit von einer neuen Eskalation der Behinderung der lebensrettenden Arbeit ziviler Seenotrettungsorganisationen.
Am häufigsten wurde der Hafen von Brindisi im Osten Italiens zugewiesen (10 Ausschiffungen). Um ihn anzufahren, müssen Schiffe 618 Kilometer mehr zurücklegen als den sizilianischen Hafen Pozzallo zu erreichen. Danach folgen Civitavecchia (834 zusätzliche Kilometer) und Bari (728 zusätzliche Kilometer) mit jeweils 9 Ausschiffungen. Auch die nördlichsten Häfen Italiens, Genua und Ravenna, wurden wiederholt als Häfen für aus Seenot Gerettete zugewiesen.
Klick dich durch die folgende Karte, um festzustellen, welche Häfen zugewiesen wurden und wie viele zusätzliche Tage und Kilometer dies für die zivile Flotte bedeutet hat.
Weit entfernte Häfen
Um zu berechnen, wie viele extra Kilometer und Tage die zivile Flotte aufgrund der Zuweisung weit entfernter Häfen verloren hat, wurden Lampedusa für die kleineren Rettungsschiffe (Astral, Aurora, Louise Michel, Mare*Go, Nadir, Rise Above, Trotamar III) und Pozzallo für die größeren Rettungsschiffe mit mehr Ausstattung (z.B. Toiletten) (Aita Mari, Geo Barents, Humanity 1, Life Support, Mare Jonio, Ocean Viking, Open Arms, Open Arms Uno, ResQ-People, Sea-Eye 4, Sea Punk 1) als Referenzhäfen festgelegt.
Diese befinden sich in der Nähe des Einsatzgebietes und sind für die Ausstattung und die Kapazitäten der Schiffe angemessen. Anschließend wurde die Distanz zwischen den jeweiligen Referenzhäfen bis zum tatsächlich zugewiesenen und angesteuerten Hafen berechnet. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Geschwindigkeit der jeweiligen zivilen Rettungsschiffe wurde für jedes Schiff die zusätzliche Zeit berechnet, die es gekostet hat, den weit entfernten Hafen anstelle eines nahen Hafens anzufahren.
Die systematische Zuweisung weit entfernter Häfen ist ein klarer Verstoß gegen das internationale Seerecht. Laut diesem müssen die zuständigen Küstenstaaten Italien und Malta unverzüglich einen sicheren Hafen in unmittelbarer Nähe des Rettungsschiffes koordinieren und zuweisen, sodass Gerettete schnellstmöglich an einem sicheren Ort an Land gehen können. Das Leben der Geretteten darf dort nicht länger in Gefahr sein, die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse, wie Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung muss sichergestellt und eine Weiterreise möglich sein. (Details dazu in unseren Positionspapieren)
Unhaltbares Argument der Aufnahmekapazitäten
Warum die italienische Regierung diesen internationalen Vorgaben im Fall von zivilen Rettungsschiffen nicht nachkommt, begründet sie mit überlasteten Aufnahmekapazitäten im Süden des Landes. Doch diese Argumente erweisen sich bei näherem Hinsehen als an den Haaren herbeigezogen: Zivile Rettungsschiffe haben 2023 mit rund 8% nur einen Bruchteil der Menschen, die Italien über den Seeweg erreichen, an Land . Die meisten Rettungen wurden von der italienischen Küstenwache in Küstennähe durchgeführt – und im Anschluss wurden die Geretteten von dieser nach Lampedusa gebracht. Um Aufnahmekapazitäten zu berücksichtigen und auszugleichen gäbe es zudem effektivere und angemessenere Wege. Die Geretteten könnten etwa mit Fähren von Lampedusa in andere Regionen gebracht werden. Grundsätzlich ist Italien nach EU-Recht dazu verpflichtet, Schutzsuchende menschenwürdig unterzubringen und rechtsstaatliche Asylverfahren durchzuführen. Die systematische Zuweisung von weit entfernten Häfen für zivile Rettungsschiffe widerspricht internationalem Recht und die langen Transitzeiten an Bord von Rettungsschiffen bedeuten ein unverhältnismäßiges Risiko für die Überlebenden und verletzen ihre Grundrechte. Zudem stellt die Praxis der entfernten Häfen eine ungerechtfertigte Behinderung der Arbeit von humanitären Nichtregierungsorganisationen dar. 2023 war das tödlichste Jahr im zentralen Mittelmeer seit 2017: Rund 2.500 Menschen sind ums Leben gekommen, die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Jedes Rettungsschiff wird dringend gebraucht.
Wir fordern, dass die Behinderung und Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung umgehend beendet wird. Stattdessen müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten sicherstellen, dass zivile Seenotrettung ohne Einschränkung stattfinden kann!
© Interaktive Karte: Fabian Stricker, contact@fabmap.at