Jutta über vier Rettungen im Winter

Crewmitglied im Gespräch mit einem Geretteten auf der Humanity 1
Nicole Thyssen / SOS Humanity

261 Menschen konnte unsere Crew im Dezember im zentralen Mittelmeer aus Seenot retten. Jutta war als Care-Koordinatorin dabei und berichtet von ihren Eindrücken an Bord der Humanity 1, vom weiten Weg zu einem zugewiesenen sicheren Hafen – und von jenen Menschen, die nicht gerettet werden konnten.

Dieser Beitrag ist am Freitag, 14.04.23, bei Focus Online erschienen

Als ich das Deck betrete, atme ich tief durch. Überall, wo wir vor wenigen Tagen als Crew noch zu Abend gegessen haben, sitzen nun Menschen. Von verschiedenen Seiten rascheln die Rettungsdecken, auf dem Boden ruhen sich erschöpfte Gerettete aus. Auch ich bin von den insgesamt vier Rettungen erschöpft. Doch mein Zustand ist wohl kein Vergleich zu dem, was diese 261 Überlebenden bei ihrer Flucht über das Meer durchleben mussten. Ich bin froh, dass sie nun sicher bei uns an Bord sind. Doch nicht alle hatten so viel Glück wie diese Frauen, Kinder und Männer. 

Antoine, unser ehrenamtlicher kultureller Vermittler, und ich rufen die Geretteten zusammen. Jeden Morgen geben wir Informationen und fragen, was die Menschen brauchen. „Bevor wir anfangen, müssen wir euch etwas Trauriges mitteilen“, beginne ich unsere Zusammenkunft. Ich erkläre, dass während unserer dritten Rettung ein weiteres Boot mit Schutzsuchenden in der Nähe war. „Leider haben es nur sechs von diesen Menschen zu uns geschafft. Es tut uns unfassbar leid.“  Ich bin froh, dass Antoine an dieser Stelle übersetzt, denn meine Stimme bricht bei der Erinnerung an den gestrigen Tag. Noch während der Evakuierung des dritten Seenotfalls konnten wir von unserem Schiff beobachten, wie die sogenannte libysche Küstenwache ein anderes Schlauchboot mit Flüchtenden abfing und die Menschen zu sich an Bord zwang. Nur sechs mutige Männer schafften es ins Wasser zu springen und sich schwimmend zu uns zu kämpfen. Sie erzählten uns, dass diese sogenannte libysche Küstenwache ihre Habseligkeiten beschlagnahmte und eine schwangere Frau schlugen.  

Gerettete auf der Humanity 1 sitzend und liegend zwischen trocknender Wäsche auf Wäscheleinen.
Nicole Thyssen

In Europa haben wir uns schon längst an die schrecklichen Nachrichten von ertrunkenen Menschen und illegalen Rückführungen nach Libyen gewöhnt. Rund 50 km vor der libyschen Küste lässt sich diese Realität nicht verdrängen. Die Stimmung an Deck ist gedrückt. Die verzweifelten Menschen auf dem anderen Boot, das hätten sie selbst sein können. Sie alle wissen von den schweren Menschenrechtsverletzungen in Libyen. Die meisten von ihnen haben sie selbst erlebt.  

Nicht alle Geretteten sprechen über diese Erlebnisse, doch unser ehrenamtlich arbeitendes medizinisches Team sieht viele Wunden und Narben, die häufig in Libyen entstanden sind. Die Verletzungen erzählen von dem Erlittenen, Unmenschlichen, manchmal auch von Widerstand. Die Psychologin an Bord kann in der kurzen Zeit keine Wunder bewirken. Aber sie ist für diejenigen da, denen das Reden hilft. Zudem erklärt sie den Menschen, dass häufige Symptome wie Schlaflosigkeit oder tiefe Niedergeschlagenheit nach allem, was sie auf der Flucht erlebt haben, ganz natürlich sind.

Die Freiheit über das eigene Leben zu entscheiden ist ein wichtiger Faktor für die mentale Gesundheit. Deshalb versuchen wir an Bord so viel Mitsprache und Aktivitäten zu umzusetzen, wie es die begrenzten Möglichkeiten an Deck erlauben. Wir bieten Sprachunterricht und Gymnastik an, verteilen Bücher und Spiele, integrieren die Menschen in das Abwaschen von Tellern und Bechern und andere kleine Tätigkeiten an Deck. Täglich fragen die Geretteten, wann sie endlich im sicheren Europa an Land gehen können. Aber das liegt nicht in unserer Hand. Die italienischen Behörden entscheiden darüber, wann und wo sie uns einen sicheren Hafen zuweisen. Fünf Tage nach der ersten Rettung bekommen wir endlich die Nachricht, dass wir den Hafen von Bari anfahren dürfen, eine Stadt im Osten Italiens. 

Es ist Dezember, ein Sturm zieht auf. Daher ist die eigentlich gute Nachricht eines zugewiesenen sicheren Hafens eingetrübt: Wir haben noch zwei Tage Fahrtzeit bei denkbar schlechtem Wetter vor uns. Die Crew versteht es als Schikane, dass schutzbedürftige Menschen auf offenem Deck für 48 Stunden starkem Wellengang, Wind und Regen ausgesetzt werden – wobei doch einige andere Häfen in Süditalien deutlich näher liegen. In der Dunkelheit versuchen Crew und Gerettete unter gemeinsamer Anstrengung mit Plastikplanen und Seilen zumindest ein wenig Schutz vor dem über das Deck peitschende Wasser zu schaffen. Ich entschuldige ich mich bei den Geretteten, doch lächelnd winken sie ab und nehmen Kälte und Nässe bei Schlaflosigkeit in ihrer letzten Nacht auf der Humanity 1 klaglos in Kauf. 

Am nächsten Tag erreichen wir den Hafen von Bari und die Menschen dürfen endlich an Land. Dieser Moment ist für mich immer sehr emotional. Ich weiß nicht, wie es ihnen von hier an ergehen wird.

Während ihre Zukunft ungewiss bleibt, geht es für mich bald wieder in mein sicheres Zuhause.

Dort ist das Ertrinken von Flüchtenden im Mittelmeer, der tödlichsten Außengrenze der Welt, nur eine von vielen Meldungen in den Nachrichten. Hier gibt es das Privileg wegzusehen, weiterzuklicken. Dabei sind es unsere gewählten Demokratien, und damit wir, die diese Menschenrechtsverletzungen mitzuverantworten haben. Solange wir in unserer Außenpolitik auf Abschottung statt Solidarität setzen, werden flüchtende Menschen im Mittelmeer ertrinken oder gewaltsam in unmenschliche libysche Inhaftierungslager zurückgeführt. Sie werden ihrer Menschenrechte beraubt – dem Recht auf Leben, dem Recht auf Sicherheit und dem Recht auf Beantragung von Asyl. Das ist die tägliche Realität im Mittelmeer. Mithilfe der Spenden aus der Zivilgesellschaft versuchen wir bei SOS Humanity, ein wenig mehr Menschlichkeit aufs Mittelmeer zu bringen.   

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