Bianca, Psychologin und Teil des medizinischen Teams auf der Humanity 1

Die Psychologin Bianca auf der Humanity 1.
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Krieg, Gewalt und Tod sind Erfahrungen, die die psychologische Gesundheit von Menschen auf den Prüfstand stellen. Weil viele der Menschen, die wir retten, potenziell traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, gibt es an Bord der Humanity 1 die Position der*des Mental Health Beauftragten.

In dieser Position war auch Bianca im November 2022 an Bord. Die Psychologin mit jahrelanger Erfahrung in der Nothilfe wollte dort unterstützen, wo sie einen dringenden Bedarf sieht. Anlässlich unseres Themenmonats rund um den Weltfrauentag haben wir sie konkret zu ihren Erfahrungen mit Frauen und Kindern an Bord befragt. Mehr erfahrt ihr in unserem Interview.

Welche Erfahrungen hast Du mit Kindern und ihren Eltern gemacht, die die gefährliche Reise über das Meer antreten?

Normalerweise versuchen Eltern, ihre Kinder zu schützen. Sie versuchen, die Kinder die Gefahr nicht spüren zu lassen. Aber Kinder spüren die Angst ihrer Eltern, und haben deshalb noch mehr Angst.

Wir Erwachsenen versuchen oft, eine „schützende Blase“ für Kinder zu schaffen, aber Kinder müssen reden und traumatische Erlebnisse verarbeiten. Viele der Kinder, denen ich während meiner Arbeit begegnete, mussten mit ansehen, wie ihre Eltern starben, oder hatten schreckliche Gewalttaten erlebt. Deswegen brauchen Kinder einen sicheren Ort und Fachleute, um über traumatische Erlebnisse sprechen zu können.

Die Kinder, denen ich begegnete, hatten Schlafprobleme oder aßen nicht – sie hatten Angst. Die Eltern treten die gefährliche Flucht mit dem Wissen an, dass sie mit ihren Kindern sterben könnten, aber sie sehen keine andere Wahl.

Gibt es aus psychologischer Sicht Probleme, die besonders Frauen betreffen? Wie kannst du dazu beitragen, diese Probleme zu lösen?

Die Gewalt, die Frauen widerfährt, ist nicht nur sexuell, sondern auch psychologisch, wirtschaftlich oder sozial. Gewalt ist ein Ungleichgewicht von Macht. Weltweit werden Frauen unterdrückt, um ihre Freiheit und ihre Kultur einzuschränken. Dagegen leisten diese Frauen jedoch Widerstand und treten für sich und ihre Freiheit ein. Es ist wichtig, jede Person, der wir begegnen, mit Würde zu behandeln.

Menschen, die Gewalt erlitten haben, sind nicht automatisch schwach. Wir müssen materielle und psychologische Hilfsmittel zur Verfügung stellen, um sie zu unterstützen und zu begleiten. Diese Frauen haben einen gefährlichen Weg hinter sich und müssen respektiert werden.

Was bedeutet es für dich, mit Traumata und Gewalterfahrungen anderer Frauen umzugehen?

Als Fachkraft muss ich in der Lage sein, frei über Gewalt zu sprechen. Gewalt wird bei uns oft mit einem Tabu belegt. Das Tabu lässt die Betroffenen folgendes glauben: „ich bin keine Frau mehr, weil ich Gewalt erlitten habe; jetzt bin ich nichts mehr wert, ich muss mich schämen“.

Oft widerfährt Frauen grausame Gewalt, die sie jedoch als Teil ihrer normalen Realität wahrnehmen. Als Fachkraft ist es wichtig, Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen und einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sie frei sprechen können. Gewalt darf weder normal sein noch dürfen die Menschen, denen sie angetan wurde, verurteilt werden.

Hast du besondere Erinnerungen an Interaktionen/Arbeiten mit Frauen an Bord, die du gerne teilen würden?

Während meiner Zeit auf der Humanity 1 hatte ich die Ehre, an einem Gruppengespräch von Frauen teilzunehmen. Wir sprachen über Gewalt, Ängste und was es bedeutet, eine Frau in dieser Welt zu sein. Daraus entstand eine Atmosphäre der Schwesternschaft und Solidarität; ein Moment gegenseitiger Unterstützung, bei der jede der anderen helfen konnte.

Welche Möglichkeiten bietest du bzw. die Besatzung oder die Humanity 1 als Schiff an, um auf die Bedürfnisse der Frauen an Bord einzugehen?

Die Humanity 1 bietet eine sichere Unterkunft für Frauen. Frauen Schutzräume zu geben, bedeutet, sie zu stärken und zu befähigen, sich der erlittenen Gewalt zu stellen.

Statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass eine Frau, die Opfer von Gewalt wurde, erneut Opfer von Gewalt wird. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, muss den Frauen die Möglichkeit gegeben werden, die besten Mittel zu finden, um ihr Leben zurückzuerobern. Unterstützung bedeutet auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder in einer Weise zu erziehen, die Gewalt und Trauma nicht fortbestehen lässt.

Diese Frauen unterstützen große Familien, oft allein. Sie wurden unterdrückt, aber ihre Seelen sind frei. Es ist unsere Pflicht, sie zu unterstützen und ihnen die Achtung entgegenzubringen, die andere Menschen versucht haben ihnen wegzunehmen. Es sind Frauen, die immer auf sich allein gestellt waren, ich wünschte, wir könnten füreinander einstehen.

Was forderst du von der Politik für die Zukunft?

Ich persönlich mache keine Politik, aber als Fachfrau fordere ich eine sichere Welt für alle. Wir können nicht von Entwicklung und Wachstum sprechen, wenn es auf der Welt Orte des Todes und der Verwüstung gibt, wie zum Beispiel in Libyen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Regierungen, die von Solidarität und Menschlichkeit sprechen, mit denjenigen zusammenarbeiten, die solche Gräueltaten verüben.

Zivilisation bedeutet, Möglichkeiten und gleiche Chancen für alle Männer und Frauen bereitzustellen. Eine Gesellschaft kann nur (über sich hinaus) wachsen, wenn sie die Entwicklung und Würde jedes Einzelnen im Blick behält.

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