„Ich habe meine beiden Brüder im Meer verloren“ – Berichte geretteter Frauen über ihre Zeit in Libyen und die Versuche von dort zu entkommen

Gerettete Frauen und Mädchen blicken von der Reling aus auf das Meer.
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Triggerwarnung: Der folgende Text befasst sich mit der Lebensrealität vieler Frauen auf der Flucht. Im Text werden verschiedene Formen (sexualisierter) Gewalt und Mord thematisiert und beschrieben.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Aktion zum Weltfrauentag #FrauenRetten

Die Geschichten der Frauen, die wir retten, zeigen: Die Flucht über das Meer bleibt der einzige Ausweg.

Dass in Libyen massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten an der Tagesordnung sind, ist zahlreich belegt. Das hindert die Europäische Union und einige ihrer Mitgliedsstaaten keineswegs daran, mit libyschen Behörden zusammen zu arbeiten, um Migration nach Europa zu verhindern. Insbesondere die Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache befeuert einen Kreislauf aus Fluchtversuchen, Inhaftierungen und Gewalt.

Die Folgen dieser menschenverachtenden Politik zeigen sich in den Berichten der geretteten Frauen.

Alle Frauen schildern, dass sie teilweise mehrmals von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen wurden. Menschen durch die Auslagerung von Migrations- sowie Grenzkontrollen und Abschottungspolitik bei gleichzeitiger Behinderung ziviler Seenotrettung zu dieser unsicheren Flucht zu zwingen, offenbart, dass im Mittelmeer die Rechte von Frauen, Kindern und Menschen insgesamt unterzugehen drohen.

Ein Kreislauf aus Flucht und Gewalt

Eine gerettete Frau mit ihrer minderjährigen Tochter im Schutzraum für Frauen und Kinder auf der Humanity 1
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Djneva* (20) von der Elfenbeinküste floh mit ihrer Tochter Oumou*. Hier spricht sie über die Zeit in Libyen und ihre Versuche, der Gewalt zu entkommen.

„Ich kam mit Oumou*, meiner Tochter, in Libyen an. Wir hatten kein Geld, um das Lösegeld zu bezahlen, also blieben wir ein Jahr lang im Gefängnis. Danach haben wir versucht, mit dem Boot zu fliehen. Aber einige arabische Leute kamen und fingen uns im Wasser. Wir wurden wieder ins Gefängnis gesteckt, ohne Essen und Wasser. Wir wurden jeden Tag verprügelt. Nach zwei Monaten kamen wir frei, aber wir hatten kein Geld, also lebten wir fünf Monate lang im Freien.

Ich versuchte es erneut (Anmerkung: die Flucht über das Mittelmeer) und ein Mann half uns zu bezahlen. Schließlich fand uns die Humanity 1. Davor war ich zwei Jahre lang in Libyen. Ich habe niemanden sonst, es gibt nur mich und Oumou.“

Auch Marie-Therese* versuchte mehrmals über das Mittelmeer zu fliehen. Hier schildert sie einen der Versuche und die tödlichen Konsequenzen.

„Als ich das erste Mal versuchte, Libyen zu verlassen, stießen sie mich vom Boot ins Wasser und nahmen mir mein Geld ab.

Als ich das zweite Mal versuchte, [über das Mittelmeer] zu fliehen, kam der Verantwortliche zu uns, holte eine Waffe heraus und begann, auf die Menschen im Boot zu schießen. 14 Menschen starben. Sie haben nur zugesehen, wie die Menschen starben. Sie sind alle ertrunken, und sie haben nur zugesehen. Man versucht, sich an etwas festzuhalten, aber die, die das nicht konnten, sind alle ertrunken.

Danach war ich wieder im Gefängnis. Das Gleiche noch mal, das gleiche Gefängnis, die gleichen Leute, kein Wasser, kein Essen. Nur Schläge, die ganze Zeit über. Das passierte vier Mal. Beim fünften Mal hat uns die Humanity 1 gefunden. Jetzt versuchen wir, hoffnungsvoll zu bleiben.“

Eine Frau in Rettungsweste. Nur das Gesicht ist noch zu sehen und sie trägt eine rosafarbene Wollmütze.
Nicole Thyssen / SOS Humanity

Fatime* (20 von der Elfenbeinküste) wurde im Dezember 2022 gerettet. An Bord der Humanity 1 erzählt sie, wie sie bei einem gewaltsamen Pull-back durch die sogenannte libysche Küstenwache ihre beiden Brüder verlor.

„Das erste Mal kam ich mit meinen beiden Brüdern, einem jüngeren und einem älteren, nach Libyen. Als wir das erste Mal versuchten zu fliehen, kamen die Libyer. Sie nahmen unser Geld und schossen auf das Boot, so dass kenterten. Ich habe meine beiden Brüder im Meer verloren, sie sind beide ertrunken. Danach nahmen sie [die Libyer] mich mit und steckten mich ins Gefängnis.

Als ich bezahlte, brachten sie mich in ein Haus, verkauften mich dann aber an einen anderen Mann. Dort wurde ich vergewaltigt, und jetzt bin ich mit seinem Kind schwanger. Ich konnte fliehen […]. Dieses Mal wurden wir von der Humanity 1 gefunden. Ich möchte, dass Europa mir hilft, ich habe niemanden in Europa.“

Von dem Kreislauf aus Flucht und Gewalt spricht auch Aisha*. Sie wurde gemeinsam mit ihrem Baby im Dezember 2022 gerettet.

„Nach einer Weile hatte ich genug Geld zusammen, um die Überfahrt zu bezahlen. Ich war schwanger. Dann erwischten mich die Libyer wieder. Dieselbe Person, der ich Geld gezahlt hatte, um zu fliehen, brachte mich erneut ins Gefängnis.
[…]
Nach einer Weile hatte ich genug Geld, um eine weitere Reise über das Meer zu bezahlen. Die Libyer erwischten mich wieder; diesmal blieb ich sechs Monate im Gefängnis, zusammen mit meinem Baby. (…) Bei meinem vierten Fluchtversuch wurde ich von der Humanity 1 gerettet.“

*Die Namen wurden geändert, um die Identität der Geretteten zu schützen. Die Portraitaufnahmen sind mit Einwilligung der Geretteten entstanden.

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